Der Mann ohne Eigenschaften)1
Die Geschichte des Imperialismus und Kolonialismus überschattet und überdauert in ihren Auswirkungen das angebliche Ende des Letzteren, und sie hat lange vor dem langen 19. Jahrhundert begonnen.2 Schon bei Platon findet sich der Gedanke, dass eine polis ihren Bevölkerungsüberschuss durch Gründung neuer „Pflanzstädte“ jenseits des Meeres planvoll und produktiv abführen müsse.3 Mehr als 2000 Jahre später kennt Bartholomew’s Century Atlas of the World (London 1902) lediglich 37 unabhängige „Principal States“; deren „Colonies and Protectorates“ werden nicht mitgezählt.4 Auf diese Weise sind 1914, als Kafka seine Strafkolonie schreibt, zirka 85 % der globalen Landmasse Kolonien.5
Wie jeder auch noch so kurze historische Abriss suggeriert, kann man Auswanderung und – als ihr Komplementärphänomen – Gebietserweiterung nachgerade als anthropologische Konstanten ansehen. In seiner 1995 erstmals formulierten Typologie unterscheidet Jürgen Osterhammel zwischen (1) der „Totalmigration ganzer Völker und Gesellschaften“ wie z.B. in der sog. Völkerwanderung, (2) „massenhafte[r] Individualmigration“ wie z.B. in die Neue Welt oder aus der sog. Dritten Welt nach Europa, (3) „Grenzkolonisation“ (das „Hinausschieben einer Kultivierungsgrenze“ wie z.B. im frontier-Gedanken der USA im 19. Jh.), (4) „überseeische[r] Siedlungskolonisation (in Nordamerika, Australien/Neuseeland, Südafrika, der Karibik etc.), (5) „reichsbildendende[n] Eroberungskriege[n]“ wie etwa bei Dschingis Khan und (6) der „Stützpunktvernetzung“ z.B. der Regionalmächte Genua und Venedig im Mittelmeer oder der Briten und Portugiesen in Singapur, Hongkong und Macau.6
Bevor er noch diese Kategorien entwickelt, moniert der deutsche Fachhistoriker auch, dass Kolonisation „ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit“ sei;7 ebenso sehen andere Forscher/innen den Begriff des Kolonialismus zumindest als „umstritten“.8 Und in der Tat stellt sich die Frage, ob die antik-griechische Kolonisierung der Mittelmeerküsten, die militärischen Eroberungen der Römer,9 die sich in Zentral- und Osteuropa festsetzenden deutschen Kolonisten des Mittelalters und der Frühneuzeit, die Entdeckung/Besiedlung Amerikas und die großen europäischen Kolonialreiche der Moderne kommensurable Phänomene sind. Was wäre also (mit Wittgenstein gesprochen) die „Familienähnlichkeit“10 zwischen jenen europäischen Expansionsbewegungen und beispielweise den historischen Großreichen Asiens? Zugespitzt formuliert: Wie eurozentrisch ist eine historiografische Theorie des Kolonialismus? Anderseits: Läuft ein wahrhaft globaler Begriff nicht wiederum Gefahr, sich – ähnlich wie Saids „Orientalismus“11 – dem Vorwurf künstlicher, ahistorischer Universalität auszusetzen?12
Die um die Jahrtausendwende aufgekommene historisch-kulturwissenschaftliche Debatte, inwieweit das Kolonialismus-Paradigma produktiv auf innereuropäische und speziell habsburgische Verhältnisse umgelegt werden könnte, zeitigt indes immer neue Ergebnisse.13 Dies hat auch den Verfasser der vorliegenden Studie – der am Zustandekommen eben jener Diskussion nicht ganz unschuldig war – dazu gebracht, auf seine eigenen Positionen, die erst eher programmatisch als mit dem Anspruch auf Vollständigkeit geäußert wurden, noch einmal zurückzukommen. In Ergänzung zu früheren Texten14 erscheint es angebracht, die verschiedenen Anwendungsfälle noch einmal zu differenzieren, in denen das Paradigma ‚Kolonialismus‘ in Hinblick auf „Kakanien“ operationalisiert wird. Im Wesentlichen dürfte es sich dabei um folgende Szenarien handeln:15
1 Österreich-Ungarn wird historisch-sozialwissenschaftlich als (Pseudo-)Kolonialmacht angesehen, die sich anderssprachiger Territorien imperialistisch bemächtigt hat, um sie zu beherrschen und ökonomisch auszubeuten; damit wird ein innerkontinentaler Kolonialismus als historischer Befund ausgesprochen.
2 Wie in Fall 1 wird dem späten Habsburger Reich unterstellt, so etwas wie eine Kolonialmacht gewesen zu sein; dies geschieht jedoch v.a. rhetorisch, d.h. häufig in polemischer Form im Rahmen eines zeitgenössischen bzw. zeitspezifischen Diskurses (als Befindlichkeit).
3 Es wird eingeräumt, dass die k.u.k. Monarchie zwar keine Kolonialmacht im engeren Sinne war, dass aber ihre symbolischen Formen ethnisch differenzierender Herrschaft – d.h. ihre kulturellen Formatierungen und Bilderwelten – Ähnlichkeiten zu jenen überseeischer Kolonialreiche aufweisen (Imagologie und Identitätspolitik). Vorgeschlagen wird hier also eine heuristische Denkfigur bzw. ein Vergleich als kritische Betrachtungsweise.
Im Folgenden soll versucht werden, diese drei Positionen noch einmal darzustellen und einen Beitrag zu ihrer weiteren Diskussion zu leisten.
1. Kolonialismus als Befund: der sozialwissenschaftliche & historische Diskurs
Als erster Schritt zu einer näheren Bestimmung unseres Fokus sollen nun historiografisch-sozialwissenschaftliche Definitionen von Kolonie, Kolonisierung bzw. Kolonialismus aus gängigen Handbüchern, Fach-Enzyklopädien und Standardwerken herangezogen und diskutiert werden. Gleichwohl empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht im Hinblick auf ältere Texte dieses Genres, die häufig auf Grund ihrer zeitlichen und sogar geistigen Nachbarschaft zur Endphase des europäischen Kolonialismus in der Nachkriegszeit wenig brauchbar sind.1 Dennoch liegt bereits mit Rupert Emersons Definition in der International Encyclopedia of the Social Sciences von 1968 eine praktikable Arbeitshypothese vor:
Colonialism is the establishment and maintenance, for an extended time, of rule over an alien people that is separate from and subordinate to the ruling power. It is no longer closely associated with the term ‚colonization‘, which involves the settlement abroad of people from a mother country as in the case of the ancient Greek colonies or the Americas. Colonialism has now come to be identified with rule over peoples of different race inhabiting lands separated by salt water from the imperial center; […].
Some further features of the ‚colonial situation‘2 are: domination of an alien minority, asserting racial and cultural superiority over a materially inferior native majority; contact between a machine-oriented civilization with Christian origins, a powerful economy, and a rapid rhythm of life and a non-Christian civilization that lacks machines and is marked by a backward economy and a slow rhythm of life; and the imposition of the first civilization upon the second.3
Dies entspricht im Wesentlichen auch den Ansätzen, die Jahrzehnte später zur Blütezeit der Post/Colonial Studies vorgetragen werden.4 Wesentlich ist dabei, dass der aus den antiken Kolonien sich herleitende Siedlungsgedanke revidiert worden ist zugunsten der Fokussierung auf eine externe, kulturell fremde Herrschaft, die sich selbst interventionistisch aufoktroyiert: „Modern colonialism was not characterized by settlements but by external control.“5 Oder, mit den Worten von Jürgen Osterhammel: „‚Kolonisation‘ bezeichnet im Kern einen Prozeß der Landnahme, ‚Kolonie‘ eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband,6 ‚Kolonialismus‘ ein Herrschaftsverhältnis.“7
Auch die meisten anderen Theoriebeiträge trachten, diese drei Begriffe von einander abzuheben. Wolfgang Reinhard schreibt etwa, ‚Kolonisierung‘ habe zwar prinzipiell mit „Migration“ zu tun; der Begriff verliere jedoch seine relativ neutrale Bedeutung (’Siedlungswesen’) im Lauf des 19. Jahrhunderts, was – so wäre hinzuzufügen – seiner breiten Anwendung und Aufladung im Rahmen eines gesamteuropäischen Kolonialismus Vorschub leistet:
We have no choice but to accept the change of meaning that colonialism has undergone, though we can try to neutralize political emotions. In this sense, colonialism can be defined as the control of one people by another, culturally different one, an unequal relationship which exploits differences of economic, political, and ideological development between the two.8
Reinhard macht drei Hauptmotive für den Kolonialismus namhaft: 1) „sozio-ökonomische Antriebe“9 bzw. der „Wille zur Modernisierung“, 2) „extensive Vorwärtsverteidigung“ (Expansionismus?) sowie 3) „ideologische, religiöse, kulturelle Antriebe“ (also die ‚missionarische‘ Seite der Kolonisation).10 Struktureller geht Osterhammel vor, der zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Begriffs drei wesentliche Faktoren formuliert, die im Fall des Kolonialismus verwirklicht sein müssten:
Erstens