Osterhammel muss freilich einräumen, dass es derartige Herrschaftsverhältnisse ebenso zwischen Zentren und Peripherien „innerhalb von Nationalstaaten oder territorial zusammenhängenden Landimperien“ gebe4 (und die Dichotomie von Zentrum vs. Peripherie/n ist ja auch häufig als Beschreibungmodus für Imperialismus ebenso wie als Alternativmodell für eine ‚kolonialistische‘ Konzeptualisierung der späten Habsburger Monarchie bemüht worden;5 es muss freilich differenziert werden zwischen einerseits armen Randgebieten wie z.B. Galizien und anderseits reichen Peripherien wie Böhmen6, die wirtschaftlich ‚zentraler‘, d.h. entwickelter sind als etwa das österreichische Kernland; ebenso gibt es in Österreich-Ungarn nicht nur eine, sondern – je nach Blickwinkel – mehrere Metropolen).
Osterhammels Erwähnung von Herrschaftsdoktrinen als Rechtsfertigungsdiskursen trifft sich allerdings auch mit einer Bemerkung des Triestiner Germanisten und Autors Claudio Magris. In seiner folgenreichen Studie zum „habsburgischen Mythos“ (d.h. das monarchistisch-nostalgische Postulat eines utopisch multikulturellen „Vielvölkerstaats“ als Gegenentwurf zum „Völkerkerker“-Narrativ diverser zentrifugaler Nationalismen) sieht er diesen durchaus funktional bestimmt in der „kulturelle[n] Kolonisation Osteuropas“7 (Auch Wolfgang Reinhard schreibt, von „Mitteleuropa“ sei eine „Ostkolonisation“ ausgegangen – ohne dabei die Habsburger Monarchie zu erwähnen.8). Erst vor wenigen Jahren hat der prominente französische Germanist Jacques Le Rider diesen Faden wieder aufgegriffen und elaboriert, wenn er schreibt:
[…] le ‚mythe habsbourgeois‘ de la cohabitation harmonieuse des nationalités ne put jamais se transformer en réalité. Depuis l’origine il était contredit et parfois perverti en son contraire par le colonialisme du pouvoir central et des élites dirigeantes et par le nationalisme répandu parmi tous les peuples de la monarchie.9
Auch unter historischen Zeitzeugen der k.u.k. Monarchie selbst hat es indes nicht an Stimmen gemangelt, die Österreich-Ungarn als ‚Kolonialreich‘ beschreiben bzw. denunzieren. Le Rider etwa zitiert Moritz von Engel, der als Mitglied der sog. Permanenzkommission im k.u.k. Handelsministerium 1902 panegyrisch formuliert: „Fehlen der Monarchie auch überseeische Kolonien, diese Grundlagen weltpolitischer Wirksamkeit im großen Stile, so kann sie doch mit Genugtuung auf zahlreiche Territorien (zum Beispiel Bukowina, Banat und andere) hinweisen, deren heutige Blüte einen Erfolg ihrer ebenso grossartigen wie geschickten kolonisatorischen Tätigkeit bildet.“10
Ähnlich schreibt der deutsche Reisejournalist Heinrich Renner, der sich 1896 – wie auch das offiziöse Kronprinzenwerk11 (1885–1902) – im Sinne des ‚Zivilisations‘-Narrativs zum Apologeten einer quasikolonialen Pax Austriaca in Bosnien macht:
[…] auch den in Europa jetzt so zahlreichen Kolonialpolitikern ist ein Besuch zu empfehlen; in Bosnien wird praktische Kolonialpolitik [!] getrieben und was geleistet wurde, stellt den leitenden Personen und Oesterreich-Ungarn im Allgemeinen das höchste Ehrenzeugniss aus. Einst gänzlich zurückgeblieben, reiht sich heute die bosnische Schwester europäischen Ländern als würdige Genossin an.12
Belege für eine andere ‚koloniale‘ Sichtweise finden sich dagegen bei Hilde Zaloscer (1903–1999). Die prominente österreichische Kunsthistorikerin wurde im bosnischen Tuzla geboren und wuchs in Banja Luka auf; nach dem Ende der Monarchie 1918 musste sie, da ihr Vater zur k.u.k. Oberschicht gehört hatte, aus dem neu gegründeten jugoslawischen SHS-Staat nach Wien flüchten und von dort 1938 wegen ihrer jüdischen Wurzeln weiter nach Alexandria. In ihrer Autobiografie Eine Heimkehr gibt es nicht (1988) spiegelt die Autorin Beobachtungen im kolonialen Milieu Ägyptens als zeitkritisches Narrativ auf ihre „glücklichen Kindertage […] auf einem Pulverfaß“13 in Bosnien zurück:
Im Grunde war es die gleiche Konstellation wie in Bosnien vor dem Ersten Weltkrieg. Auch dort hatte eine fremde ethnische Gruppe – in diesem Falle die Österreicher – in einem mit Gewalt angeeigneten Land durch geschickte Politik die Bevölkerung auf einem bildungsmäßig tatsächlich inferioren Status gehalten.14
Viel später, in Ägypten, fand ich mich in der gleichen Lage[…] Auch dort waren – zu Beginn meines Aufenthalt, später sollte sich das ändern – die ‚Eingeborenen‘ als minder angesehen, und wir, die Europäer, gehörten zur Elite.15
An dieser Stelle könnte man den kulturalistischen Faden Osterhammels aufgreifen und – ganz im Stil der Post/Colonial Studies unserer Gegenwart – argumentieren, dass es sich hier weniger um sozial- und politikwissenschaftliche Befunde, sondern um kulturelle Befindlichkeiten handelt. Es ginge also nicht darum, ob Österreich-Ungarn tatsächlich eine Kolonialmacht sensu stricto gewesen ist und damit den westeuropäischen Großmächten ähnlicher als angenommen.16 Interessanter wäre indes die Frage nach dem kulturellen Ausdruck bzw. Niederschlag von Dominanzverhältnissen zwischen Herrschaftszentrale(n) und beherrschten, andersethnischen Peripherien in „structures of feeling“ (Raymond Williams17) – insbesondere, als der Kultur ja in der Definition Osterhammels eine zentrale Rolle bei der Formulierung, Vermittlung und Interpretation solcher Herrschaftsverhältnisse zukommt;18 in diesem Zusammenhang sind auch diverse Forscher/innen Hans-Heinrichs Noltes moderater gewählter Begrifflichkeit der „inneren Peripherien“19 in Europa gefolgt, um nicht auf die oben skizzierte slippery slope des Kolonialismus-Begriffs zu geraten.
Aber auch jene Zentrum-Peripherie-Beziehungen funktionieren politisch in Form von strategischer Erzeugung kultureller Differenz, die meist mit sozialer und ökonomischer Marginalisierung einhergeht. Als eines von vielen Beispielen für österreichisch-ungarische Formen der Identitätspolitik soll hier ein besonders anschaulicher Textbeleg zitiert werden; es handelt sich um ein ethnographisches Werk aus und über Siebenbürgen (Transsylvanien), das eine ethnische Hierarchie insinuiert und dabei den Siebenbürger Sachsen die ‚goldene (bürgerliche) Mitte‘ zuweist gegenüber den ‚unzivilisierten‘ rumänischen Bauern und der latent ‚verschwenderischen‘ ungarischen gentry:
Ziehen wir neben diesem Kastenunterschied [!], der sich auch auf die Jugend erstreckt, noch einen gewissen Hang zum beschaulichen Leben, womöglich ohne Arbeit und Mühe, in Betracht, so dürfen wir uns nicht im geringsten darüber wundern, daß der transsilvanische Rumäne sich selten über die allerprimitivsten Lebensverhältnisse emporschwingt; denn wahr bleibt es immerhin, daß ihm der Wahlspruch gilt: Sitzen sei besser als Gehen, Liegen besser als Sitzen, Schlafen besser als Wachen, das Beste von allem aber ist das Essen! Auf diesen unleugbaren Umstand ist daher die traurige Bemerkung mancher Philoromanen zurückzuführen, daß der rumänische Bauer, trotz aller Gleichheit vor dem Gesetze, noch immer in einer ärmlichen Hütte, der magyarische Herr und der sächsische Bürger aber in einer bequemen Stadt- oder Landwohnung lebt. Dieser Hang zu einem beschaulichen Leben muß auch auf seine Intelligenz übertragen werden; er ist begriffstutzig und verhält sich abwehrend gegen jede neue Idee, die man ihm beibringen will.20
Formen dieser Rhetorik einer stur primitiven ‚Faulheit‘, die der zivilisierten ‚Anleitung‘ bedarf, finden sich nahezu weltweit, ob es sich nun um Afrikaner/innen, ‚Oriental/inn/en‘ oder um Finn/inn/en unter zaristischer Herrschaft handelt. Will man sich nun in Bezug auf die k.u.k. Monarchie auf die oben skizzierte Sichtweise von kulturell imaginierten und vermittelten „structures of feeling“ einlassen, so wären dann v.a. Bilder des Eigenen und Fremden in den diversen Medien (Gebrauchstexte, Literatur, Bildmedien etc.) der habsburgischen Kultur/en im großen Rahmen – oder zumindest stringenten Stichproben – zu untersuchen, wo es um Formen der Konstruktion von ‚Identität‘ bzw. ‚Gemeinschaft‘/en21 geht – seien diese nun Ethnien, Nationen oder die Staatsnation (das „Reich“) Österreich(-Ungarn) selbst, die der Folie eines jeweils ‚Anderen‘