Allerdings funktionieren innerhalb des Machtgefüges Europa nicht alle diskursiven Oppositionen […] auf dieselbe Weise. Während die Paare Metropole vs. Peripherie und Zivilisation vs. Barbarei/Archaik in beiden Fällen analog figuriert sind, sind bei der Frage der Ethnie und der Konfession andere, innereuropäische ‚Maßstäbe‘ relevant.24
Diese ‚postkolonialen‘ Frageperspektiven, welche die Wiener Romanistin Birgit Wagner exemplarisch in Bezug auf Sardinien entwickelt hat, könnten durchaus auch im zentral- und (süd)osteuropäischen Kontext als Anregung dienen; genauso ließen sich dann „Erosion und Neu-Erfindung von Identität, sprachliche und kulturelle Hybridisierungsprozesse, Re-Lokalisierungen“25 beschreiben.
Abgesehen von diesen meist positiv konnotierten ‚Hybrid‘-Ausprägungen multiethnischen Zusammenlebens ist freilich – wie schon die anzitierten Textquellen suggerieren – auch im zentraleuropäischen Kontext zu beachten, dass eine hegemoniale Kultur so etwas wie Definitionsmacht ausübt, die im Rahmen einer Quasi-Kolonialdiskurs-Analyse untersucht werden kann. Dies hat zum produktiven Missverständnis des Wiener Slawisten Stefan Simonek geführt, der monierte, man wolle (ganz im Sinne von Spivaks postkolonialem Programm-Aufsatz mit dem Titel Can the Subaltern Speak?26) bei derartigen Habsburg-Forschungsprojekten lediglich mit deutschsprachigen Quellen arbeiten und etwa die subalternen südslawischen „Kulturen „nur als stummes Objekt [des hegemonialen Diskurses, C.R.], nicht aber als selbst sprechendes Subjekt zur Kenntnis“ nehmen.27 Dem ist keineswegs so: Ein komparatistisches Herangehen an den Untersuchungsgegenstand in Form von kontrastiven Lektüren kultureller Texte ‚gegen den Strich‘ versteht sich von selbst (auch wenn dies nicht immer von einzelnen Forscher/inne/n, sondern nur als Teamarbeit zu leisten ist)28.
Es gilt aber auch zu berücksichtigen, dass die deutsch-österreichische und die ungarische Kultur über Machtprivilegien verfügen, um ihre Bilder und Sichtweise(n) durchzusetzen; am extremsten zeigt sich das in einem rassistischen Polizeitext der k.u.k. Militärverwaltung in Montenegro aus dem Ersten Weltkrieg, wo der Geruch (und damit ein Hygiene-Diskurs) zum selektiven Merkmal sozialer wie ethnischer Differenz für die sanktionierende Behörde wird:
Der Tischler riecht nach Firnis, der Maschinist nach Schmieröl, der Krankenwärter nach Karbol, der Pferdeknecht hat den bekannten Stallgeruch, die Zigeuner den lange in einem geschlossenen Raum wahrnehmbaren Zigeunergeruch etc.
Schließlich wird auf den ganz eigenartigen Geruch serbischer Soldaten (Gefangener) aufmerksam gemacht.29
Ein anderes denkwürdiges Phänomen ist, dass nicht-hegemoniale Kulturen nicht nur dazu tendieren, diese aufoktroyierten und vielfach entwürdigenden Bilder zu verweigern, sondern sie mitunter auch durch Habitualisierung30 zu verinnerlichen: Herrschaft funktioniert nicht nur mit Gewaltmitteln und ökonomischem Druck, sondern auch durch eine gewisse kulturelle Akzeptanz und Übernahme der auferlegten Fremdbilder durch die Betroffenen selbst31 (als Konsequenz „symbolischer“ oder „epistemischer“ Gewalt32).
Damit ist jedoch keinesfalls gesagt, dass es innerhalb von ‚beherrschten‘ Kulturen keine subversiven oder opponierenden Perspektiven gäbe (will man nicht eines der wesentlichen Existenzprinzipien von künstlerischem Schaffen überhaupt in Frage stellen): „If culture means the critique of empires, it also means the construction of them. […] The national unity which is sealed by Culture is shattered by culture,“ schreibt etwa Terry Eagleton.33 Dies alles lässt sich gut an einem satirischen Text des ukrainischen Autors Iwan Franko zeigen, der 1901 in Form einer Galizischen Schöpfungsgeschichte die ethno-soziale Differenz von ruthenischen Bauern und polnischen Gutsherren – ohne sie explizit zu nennen – am Produkt-Image von Schnaps und Wein festmacht und gleichzeitig sozialkritisch konterkariert:
Im Anfang war der Schnaps. Er war zuerst chaotisch. Ein jeder durfte ihn brennen, verkaufen oder auch höchsteigen trinken. Da kam aber der Ungarwein ins Land. Und der war theuer. Und so schied Gott die Schnapstrinkenden von den Weintrinkenden und gab den letzteren eine Gewalt über die ersteren. Und so kam es, daß die einen nur den Schnaps brennen und trinken mußten, aber brennen für die anderen und trinken für ihr gutes Geld – die anderen aber bekamen den fertigen Schnaps und verkauften ihn für ihre Rechnung, um sich mit Ungarnwein volltrinken zu können.34
So werden die Medien habsburgischer Kultur/en auch zum Schauplatz eines ethnisch kodierten ‚Kampfes um Bedeutung‘35 von Gruppen und Gemeinschaften. Wie die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl zu Recht eingeworfen hat, sollte eine ‚postkoloniale‘ Sichtweise des habsburgischen Zentraleuropa aber „nicht dazu führen, die Vielschichtigkeit von ethnisch-nationalen Konfliktlagen und die Entwicklung von Konsenskonzepten auf das dichotomische Muster einer hierarchischen Differenz zwischen hegemonialer Elitenkultur und ‚kolonisierten‘ […] Nationalitäten zu reduzieren“ und „die Vorstellung eines homogenen ‚Anderen‘ zu generieren“36 – wie wohl auch aus den zitierten Textbeispielen hervorgegangen ist.
3. ’Kolonialismus’ als Denkfigur & Lesart: eine Betrachtungsweise
If postcolonial is a useful word, then it refers to a process of disengagement from the whole colonial syndrome which takes many (HULME 1995).
Man kann nun freilich in der Hypothese einer Binnenkolonisierung in Österreich-Ungarn auch nichts Anderes als eine – mitunter polemische – Metapher sehen. Damit ist vielfach die Problematik verbunden, dass jeder Kolonialismusvorwurf gegen eine Zentralmacht häufig schon im Rahmen nationalistischer Diskurse seit dem 19. Jahrhundert selbst so weit instrumentalisiert wurde, dass er im 21. Jahrhundert eine unbeabsichtigte Parteinahme, ja Desavouierung des externen wissenschaftlichen Beobachters bedeuten könnte.1
Diesem Vorwurf ist leicht zu opponieren, waren doch die Post/Colonial Studies seit den Arbeiten von Edward Said bestrebt, den nur schwer abreißenden Gewaltzyklus zu beschreiben, wo die Vorherrschaft bestimmter ethnischer Gruppen, die sich meist hinter dem pathetischen Unionismus der Großreiche verbirgt, und die nationalistische Gegengewalt der Dekolonisation einander bedingen und nachfolgen; auf diese Weise taugen beide Positionen nicht zu einer wie auch immer gearteten politischen Bewältigung oder gar Versöhnung.2 Dies kann nur ein ‚dritter Weg‘ leisten, und in diesem Rahmen wäre noch weiter zu fragen, was eine ‚postkoloniale‘ Zugangsweise konkret in einem (zentral)europäischen Kontext leisten kann3 – will sie mehr sein als eine politisch korrekte Trauerarbeit, die pikanterweise meist in den ehemaligen Herrschaftszentren ihren Ausgang genommen hat.
Der in Kanada lehrende österreichische Kulturwissenschaftler Markus Reisenleitner hat nun ebenso wie Heidemarie Uhl darauf aufmerksam gemacht, dass das vorgeschlagene postkoloniale Modell vor allem eine Lesart sei („an interdisciplinary set of reading practices“), die dem ‚habsburgischen Mythos‘ oppononiert: „a desire to make a political intervention against appropriations of the idea of Central Europe as an essentialized space with a common heritage and a common culture for contemporary political claims of hegemony and nostalgia through glorified imaginings of the Habsburg past“.4 Es geht hier also auch um so etwas wie eine Reevaluation der habsburgischen Vergangenheit, ja um ein „Reinventing Central Europe“, hinter dem nicht selten politische Agenden stehen – verstehen sich doch etwa die österreichischen Konservativen bis zum heutigen Tag vielfach als Erben Habsburgs und seiner ‚multikulturellen‘ Vergangenheit in „Mitteleuropa“.5 ‚Postkoloniale‘ Zugangsweisen dienen nun häufig der Hinterfragung gerade jenes naiven Verständnisses von ‚Multikulturalismus‘.
Die Kritik Reisenleitners läuft indes darauf hinaus, dass postkoloniale Theorien von den ‚neuen Kakanier/innen‘ als „Werkzeugkasten“ („tool set“) betrachtet würden, den man ohne Rücksicht auf die konkrete Machtsituation der amerikanischen „academic hegemony“, in der er entstanden sei, auf Österreich-Ungarn übertragen könne.6 Dieser Transfer-Problematik ist freilich leicht zu entgegnen, dass gerade das displacement jener theoretischen Ansätze – die selbstverständlich in sich selbst als divergent anzusehen sind – die beste Gewähr bietet, diese ganz im Sinne postkolonialer Theoriebildung aus ihrer