Habsburgs 'Dark Continent'. Clemens Ruthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clemens Ruthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000539
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bestimmte Riemen reißt und schafft damit potenziell bürokratische Probleme mit der Rechnungsstelle (vgl. IDS 42). Dann wieder erbricht sich der Deliquent, von den mildtätigen „Damen des Kommandanten“ überfüttert, in die Maschine und verzögert damit den korrekten Ablauf des Hinrichtungsrituals aufs Neue (IDS 43).

      Dies hat einen Wutausbruch des Offiziers zur Folge, der ob all der Abweichungen vom ursprünglichen Zeremoniell verzweifelt und den Reisenden wortreich ersucht, sich für ihn und seine Methode beim neuen Kommandeur zu verwenden (vgl. IDS 43–51). Als sich der Besucher weigert, lässt der Offizier den Verurteilten kurzerhand frei und legt sich – in einer perversen Verkehrung der Mimikry39 – kurzerhand selbst in die Maschine, die – offenkundig defekt – ihn nicht ordnungsgemäß und deshalb scheinbar besonders grausig tötet (IDS 57). In Folge verlässt der Reisende die Insel; er lässt den Verurteilten und den anderen Soldaten zurück, nachdem deren Versuch, mit aufs Boot zu kommen, von ihm durch eine wohl kaum human zu nennende Drohgebärde mit einem „schwere[n] geknotete[n] Tau“ (IDS 59) verhindert worden ist.

      Dieser Ausgang von und aus Kafkas Strafkolonie – den der unzufriedene Autor mehrfach überarbeitete40 – hat nicht nur John Zilcosky dazu gebracht, darin eine „Allegorie der Selbstzerstörung des Kolonialismus“ zu sehen:41 „[…] the story seems to focus on the practice of military justice in general and the dynamics of colonialism in particular,“ schreibt etwa Margret Kohn.42 Sie konzentriert sich dabei auf die Figur des Forschungsreisenden, zumal dessen Sicht die Erzählperspektive dominiert, gerade auch in Hinblick auf das Ende: „The figure of the Explorer seems to suggest the ineffectiveness and indecisiveness of the liberal critique of colonial practice.“43 In diesem möglichen Gegner der Todesstrafe (vgl. IDS 46) und Kritiker gewaltsamer Kolonialherrschaft alten Stils verkörpere sich ein liberaler Imperialismus; genauso zeige Kafkas Text aber in dessen überstürzter Abreise (und schlußendlicher Komplizität) lediglich die Ohnmacht und Heuchelei, und damit die Skepsis einer möglichen Revision von Herrschaft gegenüber.44 In der Strafkolonie sei „a cautionary tale for social reformers“, getragen vom Bewusstsein, dass letztlich jede Rechtsordnung auf Gewalt beruhe.45 Ergänzend dazu vermerkt Bernd Auerochs, eine „aufgeklärte Moderne“, für die der Reisende „– wie der neue Kommandant und seine Damen – steht“, sei eine Ära „der nur scheinbaren Humanität“,46 die – in einer fundamentalen Unterminierung des Fortschritt-Paradigmas – nichts anderes „als der Kollaps der Tradition“ sei.47

      Durch diese und andere postkoloniale Lektüren von Kafkas Textes erschließt sich also eine zusätzliche Bedeutungsdimension dieser „‚schwarze[n]‘ Gesellschaftsgeschichte der Moderne“.48 Bestehende – bürokratie- und rechtskritische, zeitdiagnostische, genderbasierte, metaphysisch-religiöse, existenzialistische und biografisch-metaliterarische – Ansätze49 werden ergänzt, ohne ihnen wirklich zu opponieren, indem in der polyvalenten Unerschöpflichkeit der Kafka’schen Allegorese bisher unterbelichtete Interpretamente der (ver)waltenden Unmenschlichkeit zum Vorschein kommen. In der Strafkolonie werde der Autor, so Bernd Neumann, zum „Ethnologe[n] der eigenen [„zerfallenden“] Kultur“.50

      In eben diesem Zusammenhang hat Karen Piper auch auf eine spezifisch ‚kakanische‘ Dimension des Textes aufmerksam gemacht, indem sie das Verständigungsproblem der Figuren auf das multiethnische setup des Habsburger Monarchie zurückprojiziert.51 Ähnlich funktioniert auch die Kontextualisierung von Elizabeth Boa, wonach Kafkas Erzählung einen der „breakdowns“ des „ancient mechanism of social subordination“ zeige:52 „the unwinding of a creaking state bureaucracy, like that of Austria-Hungary, served by a soldier-bureaucrat blind to its imminent collapse“.53 Es sind Interpretationsstränge wie diese, die im Rahmen unseres Buches noch eine wichtige Rolle spielen werden (und dass eine postkoloniale Sicht auf die tropische Strafkolonie nicht völlig überzogen ist, zeigen auch denkwürdige Motiv-Ähnlichkeiten zwischen Kafka und Joseph Conrad an – wiewohl man die Werke des polnisch-britischen Autors in der Bibliothek seines Prager Zeitgenossen vergeblich suchen wird.54)

      3. Postkolonialismus & Orientalismus in der (Österreich)-Germanistik

      Ähnlich postkolonial gestimmte Re-Lektüren wie die eben präsentierte haben jedenfalls auch andere Kafka-Texte in Anspruch genommen, beispielsweise Beim Bau der chinesischen Mauer (EA 1931), Das Schloß (1926), Bericht für eine Akademie (1917), Ein Hungerkünstler (1922) und Der Verschollene (entstanden 1911–1914);1 jüngst wurde etwa auch die kleine Erzählung Schakale und Araber (1917) überzeugend vor diesem Deutungshorizont interpretiert.2 Daneben sind auch ambitionierte Genre-Studien entstanden, so z.B. zum literarischen Orientalismus als k.u.k. Gesellschaftskritik (Robert Lemon, 2011) oder zur Verschränkung von kritischer Utopie und Quasi-Kolonialroman in den Werken von Leopold von Sacher-Masoch, Theodor Herzl, u.a. (Ulrich Bach, 2016). Nicht zu vergessen wären auch – neben dem bereits erwähnten Forschungsnetzwerk Kakanien revisited und den Teamresten des Grazer SFB Moderne3 – die wenig rezipierte Dissertation des kroatischen Komparatisten Nikola Petković (University of Texas, 1996) sowie die unentwegten Versuche der Wiener Germanistin Anna Babka, einen speziellen Mix aus Postkolonialismus, Dekonstruktion sowie Gender und Queer Studies in der österreichischen Wissenschaftslandschaft heimisch zu machen.

      Ansonsten haben sich postkoloniale Zugangsweisen – im Anschluss an die Wiederentdeckung und Aufarbeitung der Geschichte4 der wilhelminischen „Schutzgebiete“ Togo, Kamerun, Tansania, Namibia und Papua Neu-Guinea (1884–1919) seit den 1980er Jahren – eher in einer deutschen Literaturwissenschaft im engeren Sinne durchgesetzt. Getragen wurde diese Entwicklung der letzten 25 Jahre nicht zuletzt von international agierenden Germanist/inn/en wie etwa Monika Albrecht (Limerick bzw. Vechta), Nina Berman (Columbus), Russell A. Berman (Stanford), Anil Bhatti (Neu-Delhi), Axel Dunker (Bremen), Gabriele Dürbeck (Vechta), Dirk Göttsche (Nottingham), Alexander Honold (Basel), Florian Krobb (Maynooth), Paul Michael Lützeler (St. Louis), John Noyes (Toronto), Klaus Scherpe (Berlin), Franziska Schößler und Herbert Uerlings (Trier), oder Sabine Wilke (Seattle).5

      So hat sich rund um Uwe Timms Roman Morenga (1978) als zentralem Text6 ein veritabler postkolonialer Kernkanon in der Germanistik etablieren kön­nen.7 Er enthält Klassiker wie Georg Forsters Reise um die Welt (1780), Alexander von Humboldts Schriften, Kleists Verlobung in St. Domingo (1811), Goethes West-östlichen Divan (1819) und Wilhelm Raabes Stopfkuchen (1868), neben der Abenteuerliteratur von Karl May sowie Kinder- und Jugendbüchern; Kolonialromane im engeren – und problematischen – Sinn wie Peter Moors Fahrt nach Südwest (Gustav Frenssen, 1906) oder Hans Grimms Volk ohne Raum (1926); Reise- und postkoloniale Literatur im engeren Sinn aus der Zwischenkriegszeit wie Alfred Döblins Amazonas-Trilogie (1937/38) ebenso wie Nachkriegsautoren vom Schlage eines Hubert Fichte, Günter Grass (Zunge zeigen, 1988) und Bodo Kirchhoff, aber auch Migrantenliteratur von May Ayim, Emine Sevgi Özdamar, Rafik Schami oder Yoko Tawada.8

      Gemäß dem bereits erwähnten Standardargument, dass Österreich(-Ungarn) über keine (Übersee-)Kolonien verfügt habe (das in der vorliegenden Arbeit kritisch hinterfragt werden soll), werden aber Autoren aus diesem post/imperialen Kontext nicht speziell thematisiert oder – wie im Falle Kafkas – stillschweigend eingemeindet, wie besonders anhand des Sammelbands Postkoloniale Germanistik deutlich (2014) wird:9 Ähnliches gilt für Schweizer Autoren wie Urs Widmer oder Christian Kracht, der mit seinem Roman Imperium von 2012 immerhin zu den Meistuntersuchten im Feld gehört; Lukas Bärfuss’ exzellenter Roman Hundert Tage (2008) über den Völkermord in Ruanda indes blieb von Dürbecks und Dunkers „Bestandsaufnahme“ überhaupt unerfasst.10

      Ergiebiger ist Österreich bzw. Habsburg als Forschungsgegenstand thematisiert, wenn es in Anschluss an Edward Saids feldbegründendes Werk von 1978 um die Analyse des Orientalismus in deutschsprachigen Ländern11 bzw. in Zentraleuropa12 geht, die sich mit postkolonialen Ansätzen naturgemäß verschränkt und überlappt. Hier ist die austriakische Präsenz deutlicher, zumal ja Österreich durch die gemeinsame Sprache und durch herausragende Forscherpersönlichkeiten wie Josef Hammer-Purgstall (1774–1856) entscheidend am deutschen Orientalismus-Diskurs partizipiert hat und gerade Wien nicht nur bei Hugo von Hofmannsthal als „Porta Orientis“13 firmiert. Bemerkenswert ist auch der