Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit jenen kulturellen „Selbst- und Fremdbildern“, „Stereotypen“, „Klischees“, o.ä.9 führt jedoch, wie noch zu zeigen ist, häufig zu theoretischen Aporien und damit in jene Sackgasse zurück, in die die sog. Komparatistische Imagologie bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geraten ist: Weist uns hier eine Intervention des postkolonialen Theoretikers Homi Bhabhas einen Ausweg – oder ist sie gut poststrukturalistisch der endgültige road block?- Quasi eine Leistungsschau, was Imagologie war/will/leistet und was sie sein könnte, bildet denn auch im Folgenden das Vorhaben unseres zweiten Theorieblocks.
1. New Criticism vs. Komparatistische Imagologie
1958 inkriminierte René Wellek auf dem Internationalen Komparatistenkongress von Chapel Hill eine neue Strömung innerhalb seines Faches:
One can not be convinced by recent attempts […] to widen suddenly the scope of comparative literature in order to include a study of national illusions, of fixed ideas which nations have of each other […] but is such a study still literary scholarship? Is it not rather a study of public opinion useful, for instance, to a program director in the Voice of America and its analogues in other countries?1
Der angesehene amerikanische Literaturwissenschaftler Prager Herkunft warf hier der sog. Komparatistischen Imagologie polemisch vor, eine Hilfswissenschaft für öffentliche Meinungsmache zu sein, wenn nicht gar „Völkerpsychologie“2; oder, philologischer formuliert: „nothing else but a revival of the old Stoffgeschichte […] at the price, however, of dissolving literary scholarship into social psychology and cultural history“.3 In dieser Kritik sind bereits Argumente vorweggenommen, denen sich später auch die Cultural Studies / Kulturwissenschaft(en) ausgesetzt sahen: nämlich die Auflösung des dem Kunstwerk immanenten ästhetischen („intrinsic“) Moments zugunsten eines vagen und gemäß den Ansprüchen traditioneller Philologie nicht unproblematischen politischen Kontextes, der „extrinsic“ ist.4
Die literaturwissenschaftliche Imagologie, der Welleks Attacke galt, ist „ein von der französischen Komparatistenschule hervorgebrachtes Spezialgebiet, das sich mit der Erforschung literarischer ‚Bilder‘ (d.h. ‚Vorstellungen‘ bzw. ‚Stereotypen‘) vom ‚andern Land‘ befaßt“.5 Oder, wie Jean-Marc Moura definiert:
L’imagologie s’intéresse à un domaine fondamental de la littérature comparée: les relations entre les écrivains et les pays étrangers telles qu’elles se traduisent dans les œuvres littéraires. Pour élaborer une image de l’étranger, l’auteur n’a pas copié le réel, il a sélectionné un certain nombre de traits jugés pertinents pour sa représentation de l’altérité. L’imagologie décrit ces éléments, les rapproche des cadres historiques, sociaux et culturels qui en forment le contexte, et détermine ce qui appartient en propre à la création de l’écrivain. Elle contribue ainsi à la connaissance d’auteurs dont la sensibilité s’est particulièrement éveillée au contact d’un pays (l’Italie de Stendhal, le Mexique de Malcolm Lowry), de vogues littéraires typiques d’une période (l’orientalisme des Lumières, la germanophobie française d’avant 1914), ou de représentations de régions, de zones géographiques tenues pour cohérentes (l’Orient des Romantiques, le Tiers Monde des écrivains d’après 1945).6
Diese Repräsentationen des anderskulturellen Fremden sind narratologisch gesehen plot-Elemente, also literarische Motive, die der Intertextualität mit anderen literarischen Werken und außerliterarischen Kontext-Beziehungen unterliegen;7 intermedial sind diese images8 aber auch mögliche Schnittstellen zwischen textgebundenen Narrativen (z.B. Literatur, Publizistik, etc.) und den visuellen Medien/Genres der Kultur9 (wie z.B. Karikaturen). In einer mentalistischen Formulierung wiederum,10 die sich an Kategorien des Chicagoer Bild-Theoretikers W.J.T. Mitchell11 anlehnt, sieht der Literaturwissenschaftler Manfred Beller „the origin of all national-typological fictions“ in „mental imaginations, ideas and Vorstellungsbilder[n]“12 und schreibt weiter: „we use the term image as the mental silhouette of the other, who appears to be determined by the characteristics of family, group, tribe, people or race. Such an image rules our opinion of others and controls our behaviour towards them.“13 Jene „national characteristics“ seien auch der „ethnocentric stock-in-trade of literature“:14 ein „unconscious inventory of images and generalized prejudices about the other“15 (womit potenziell auch eine tiefenpsychologische Ebene, sei sie individuell oder kollektiv-kulturell ins Spiel kommt); oder, mit Fokus auf die menschliche Wahrnehmung, „a pre-programmed vision“,16 „[where] real experiences and mental images compete“17.
Imagines des Nachbarlandes, des anderskulturellen Fremden etc. kursieren also offensichtlich nicht nur in Texten, sondern auch in Köpfen und Kulturen. Dabei herrscht eine Art von Dialektik zwischen der kulturellen Bildtradition sowie dem individuellen encoding (eines Autors/kulturellen Textes oder Artefakts) und dem decoding durch Leser/innen,18 oder mit Beller formuliert, ein „Dreiecksverhältnis zwischen literarischem Text, dargestellter Nation und dem Erwartungshorizont des Lesers“.19 Damit werden aber Texte wie auch Kulturen generell zu Umschlagplätzen von Bilder-Angeboten, oder – agonal gefasst – zum sublimierten Schlachtfeld eines ‚Kampfes um Bedeutung‘20 von Gruppen und ihren Bildern, den gemäß dem von Moura skizzierten imagologischen Programm eine kritische interkulturelle Erforschung der historischen Selbst- und Fremdbildformationen nachzuzeichnen vermag.21
Diese akademische Disziplin hat ihre „archeology“ und „pre-history“:22 Als Gründungsakt der literaturwissenschaftlichen Imagologie im engeren Sinn gilt Jean-Marie Carrés Vorwort Comment nous voyons vous entre nous? zu einer Publikation von Marius-François Guyard aus dem Jahr 1951, die ein Kapitel mit dem Titel L’étranger tel qu’on le voit enthält. Die Ansätze dazu reichen freilich bis in die frühen Tage der Komparatistik in Frankreich und dessen Nachbarländern zurück und wurden von Forscherpersönlichkeiten wie Louis-Paul Betz (1861–1904), Fernand Baldensperger (1871–1958), Paul Hazard (1878–1944), Paul Van Tieghem (1871–1948) u.a. mit geprägt.23 Konkreter historischer Hintergrund nach dem Zweiten Weltkrieg war die geisteswissenschaftliche Aufarbeitung des deutsch-französischen „Schlagabtausch[es]“24 und anderer ‚national‘ kodierter Spannungen in Europa.
Im Anschluss an die erwähnte Auseinandersetzung dieser „französischen Schule“ mit Wellek bzw. der amerikanischen Fachtradition,25 die dem New Criticism entsprang und dementsprechend skeptisch gegenüber einer ‚unästhetischen‘, d.h. historischen, sozialen und politischen Grundierung der Analyse eingestellt war, entstand die sog. Aachener Schule rund um den belgischen Literaturwissenschaftler Hugo Dyserinck, die vor allem in den 1980er Jahren eine internationale literarhistorische Erforschung jener nationalen images vom jeweils Anderen in Angriff nahm. Parallel dazu formulierte Daniel-Henri Pageaux an der Pariser Sorbonne seine theoretisch wohl besser unterfütterte Konzeptualisierung der imagerie bzw. des imaginaire culturelle, die dieses als semiotisches System zu fassen versucht: „The image of relations between the self and other, between inside and outside represents a cultural confrontation through which the individual subject or subject-group reveals their ideological horizon“.26 Über die Grenzen von Text- und Kulturwissenschaft hinaus existieren Ansätze zur Erforschung von Stereotypen aber auch innerhalb der Soziolinguistik, der Geschichtswissenschaft sowie in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, in der Sozialpsychologie, Kommunikationswissenschaft und in der Anthropologie.27 Diese werden in Anschluss an eine Darstellung der grundlegenden Dyade des Eigenen und des Fremden (Abschnitt 2), der Kulturgeschichte der europäischen Fremd- und Selbstbilder (Abschnitt 3), des Orientalismus/Balkanismus-Diskurses (Abschnitt