Habsburgs 'Dark Continent'. Clemens Ruthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Clemens Ruthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000539
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Görner beispielsweise hat gezeigt, wie sich der literarisch gepflogene Jahrhundertwende-Orientalismus mit Positionen des Modernismus verschränkt, d.h. wie er dazu verwendet wird, eine ästhetische Gegenwelt zum herrschenden Positivismus, „Ökonomismus und Reduktionismus“ aufzubauen und damit einen Beitrag zur Krise des Ichs um 1900 sowie deren Repräsentation und Überwindung zu leisten:15 Bei Hofmannsthal stehe

      das Orientalische nahezu konsistent für einen bestimmten Vorstellungshorizont, eine imaginatio perpetua, die sich im Zustand permanenter Selbstbefruchtung befindet. Hofmannsthal schätzte das Orientalische als eine ästhetische Ausdrucksform, die keiner Unterscheidung zwischen Innen- und Außenwelt mehr bedarf; sie ist die Einheit von Innen und Außen: das orientalische Ornament, der arabische Schriftzug, die Arabeske, sie galten ihm als sichtbare Zeichen eines unaufhörlichen Traumes, man könnte sagen, als Seismographen träumerischer Bewegungen und Erregungen.

      […] Hofmannsthal ließ keinen Zweifel daran, daß er im ästhetischen Orientalismus nicht in erster Linie ein narratives Verfahren sah, sondern einen genuin poetischen Wert.16

      Der Orient biete so den österreichischen Zerrissenen des Fin de siècle ein holistisches Modell einer zumindest imaginären idenitären – oder besser gesagt: identifikatorischen – Einheit. Dem gegenüber hat Robert Lemons Monografie Imperial Messages (2011) – ähnlich wie schon vorher Nina Berman – die „orientalist fiction“ nicht nur Hofmannsthals, sondern auch anderer Autoren der deutschsprachigen Literatur/en Österreich-Ungarns einer kontextualisierenden Lektüre unterzogen: Literarischer Orientalismus made in Austria sei „marked by self-reflection and self-critique“ der Doppelmonarchie in ihrer Spätphase;17 Kafkas Texte über das ‚Reich im Osten‘ beispielsweise evozierten „China in order to allude to the Habsburg Empire“.18 Parallel dazu hat Johannes Feichtinger gezeigt, wie in den populären Bilderwelten einer kollektiven kulturellen Imaginären um 1900 sich die Identitätskonstruktionen und wechselseitigen Abgrenzungen der verschiedenen k.u.k. Ethnien auch durch phantasmatische „Orientalisierungsprozesse“ entlang „asymmetrischer Machtverhältnisse“ vollziehen.19 Zusammen mit Johann Heiss hat Feichtinger weiters auf die Ko-Existenz mehrerer – gegenläufiger – Orientalismen in der k.u.k. Ära hingewie­sen.20

      Diesen spezifischen Charakter der politischen Symbolisierung bzw. Allegorese im Bereich orientalistischen bzw. post/kolonialen Schreibens in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert gälte es stärker zu berücksichtigen – gerade in Hinblick auf Modelle der „inneren Kolonisierung“ Europas, die in Anschluss an Michael Hechters paradgimenbildendes Werk Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British National Development, 1536–1966 von 1975 entwickelt und diskutiert worden sind.21 Deshalb ist es auch verwunderlich, dass die Habsburger Monarchie um 1900 als vom Deutschen Reich deutlich abweichender Bezugsrahmen in den tonangebenden Überblickswerken kaum wahrgenommen wird bzw. die vorliegenden Forschungsergebnisse des zentraleuropäischen Netzwerkes Habsburg postcolonial/ Kakanien revisited donauaufwärts kaum rezipiert worden sind.22 Dies hat Robert Lemon dazu gebracht, in seiner Arbeit die postkoloniale „assumption of a German perspective“ als ihrerseits latent kolonial zu kritisieren: „In this way, Dunker maintains the longstanding quasi-colonial claim of German Germanistik over Austrian and Austro-Hungarian literature and culture.“23 Erst jüngst sind gewisse Ansätze zu einer Verbesserung dieses Missverhältnisses bemerkbar.24

      Das Bedürfnis nach einer differenzierteren und ausgewogeneren Sichtweise, das mit der Publikation des vorliegenden Buches angesprochen werden soll, entspringt aber keineswegs einem reaktiven Literatur-Nationalismus des kleineren Landes. Vielmehr steht dahinter die Überzeugung, dass die Berücksichtigung des – verdrängten, aber doch sehr spezifischen – Kolonialkomplexes der imperial-historischen Kultur/en der Habsburger Monarchie neue supranationale, komparative – und „kontrapunktische“ Lektüren im Sinne von Edward Said25 – ermöglicht und bisher übersehene Facetten der k.u.k. Kultur/en zutage fördert; ein Unternehmen, das, um den Untertitel des Sammelbands Schweiz postkolonial26 zu paraphrasieren, möglicherweise auch „Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien“ inkludiert.

      4. Zur Anlage der vorliegenden Arbeit

      Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgendes Arbeitsprogramm: Zunächst sollen die Begrifflichkeiten ‚Kolonie‘ bzw. ‚Kolonialismus‘ kritisch auf ihre Übertragbarkeit auf das habsburgische Staatsgebilde im „langen 19. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) operationalisiert werden – ein Zeitraum, der sinnvollerweise vom Wiener Kongress (als dem letzten Ende der Aufklärung, der französischen Revolution und napoleonischen Kriege) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs anzusetzen wäre. Nicht intendiert wird eine Gesamtevaluation der Post/Colonial Studies, zumal diese Sinnfrage nach den Meriten und shortcomings dieser akademisch und verlagstechnisch äußerst erfolgreichen Disziplin in den letzten 20 Jahren wiederholt und umfänglich – und sehr kritisch – von Aijaz Ahmad, Graham Huggan, Anne McClintock, Benita Parry, u.v.a.1 gestellt wurde. Diese Diskussion soll nicht wieder aufgegriffen werden, sondern die Frage vielmehr ex positivo gestellt werden: Inwieweit sich eine interkulturell und kulturwissenschaftlich orientierte Österreich-Germanistik von Erkenntnissen und Zugangsweisen der Post/Colonial Studies als „travelling concepts“ (Mieke Bal) inspirieren lassen kann, ohne die besondere Eigenheit ihres habsburgischen Gegenstands aus dem Auge zu verlieren.

      Dafür wird eine entsprechend kritisch redigierte literatur- und kulturwissenschaftliche Imagologie – die Erforschung von Selbst- und Fremdbildern, wie sie in der Komparatistik aufgekommen ist – als toolset für die folgenden Fallstudien präsentiert werden, die eine koloniale Diskursanalyse in der Nachfolge von Edward Said, David Spurr und anderen versuchen. Im Brennpunkt stehen drei paradigmatische Autoren und deren Texte aus dem germanistischen Forschungskanon Österreich-Ungarns (Franz Grillparzer, Peter Altenberg und Alfred Kubin), die als symbolische Ausdrucksformen eines „kolonialen Begehrens“ bzw. eines symbolischen Ersatz-Kolonialismus verstanden werden, in Ergänzung zu bereits intensiver erforschten Autoren wie Kafka, Hofmannsthal, Sacher-Masoch, Emil Franzos oder Joseph Roth.2 Der zweite Teil der Fallstudien schließlich widmet sich mit einem erweiterten Literaturbegriff kulturellen Texten3 aus dem Umfeld der habsburgischen Okkupation (1878) und Annexion (1908) Bosnien-Herzegowinas, die als koloniale Ersatzhandlung interpretiert wird; dabei kommt dem hegemonialen Schrifttum die Funktion einer kulturellen Kolonisierung des Territoriums zu, die durchaus mit Formen des britischen und französischen Imperialismus um 1900 vergleichbar ist – soweit die zentrale These.

      Die vorliegende Arbeit versteht sich also primär als Analyse eines disparaten – phantasmatischen, aber auch pragmatischen – deutsch-österreichisch imperialen Kolonialdiskurses innerhalb der Habsburger Monarchie. Was indes nur ansatzweise geleistet werden kann, ist die Thematisierung einer literarischen Opposition nicht-deutschsprachiger Autoren und Autorinnen gegen diese kulturelle Hegemonie des Zentrums. Dies schuldet sich freilich nicht einer unreflektierten zweiten Entmündigung etwa der Südslawen, wie voreilige Kritiker moniert haben,4 sondern einfach der wissenschaftlichen Expertise des Verfassers, die freilich durch andere Ansätze innerhalb des Kakanien revisited-Netzwerks ergänzt worden ist.5 Ebenso können Bezüge zu zeitgenössischen k.u.k. Orientalismen lediglich kursorisch hergestellt werden, da auch sie wohl Gegenstand einer eigenständigen Studie sein müssten.

      Eine abschließende Zusammenschau der Ergebnisse soll dementsprechend auch in einen Ausblick münden, der künftige Antworten auf die Frage nach dem Fortwirken der kolonialen Blicke und Bildkomplexe in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts – bis hin zu Peter Handkes Jugoslawienkrieg-Texten oder Christoph Ransmayrs postmoderner Abenteuerliteratur – vorbereiten soll. Ich hoffe jedenfalls, damit meine in den letzten eineinhalb Jahrzehnten gewachsenen Ansätze und Positionen in einer konklusiven Weise zusammenzuführen und einer künftigen Forschung weitere Anstöße zu geben.6 Generell gilt freilich, was schon Peter Hulme vor 30 Jahren über seine eigene Studie Colonial Encounters schrieb: „The venture, it should be said, is archeological: no smooth history emerges, but rather a series of fragments which, read speculatively, hint at a story that can never be fully recovered.“7

      A.1. K.u.k. postcolonial:

      Habsburgs