Meine Seele will endlich fliegen. Hermine Merkl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermine Merkl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991076704
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Zeit entdeckte ich sie. Eines nach dem anderen. Und ich darf sagen: Das, was sich mir heute zeigt, ist wieder schön. Und diese ganzen Umstände lehrten mich: Wir leben zwar unser Leben vorwärts, doch die „Lehren“, die wir aus all den Herausforderungen und Erfahrungen ziehen, können wir sehr oft erst im Nachhinein verstehen. Und genau so ist dies auch mit den Geschenken. Auch sie zeigen sich uns erst hinterher. – Sind wir direkt im Prozess des Erlebens, sind wir in aller Regel „blind“ für sie. Die Geschenke zeigen sich uns erst im Nachhinein.

      Eines dieser Geschenke war für mich, dass ich die intensive Heilkraft des Schreibens entdecken konnte. Wenn ich dem Papier meine Gefühle anvertraute, dann entlastete das nicht nur meine Seele. Schreibend lernte ich mich selbst besser kennen. Schreibend befreite ich mich aus meinen Grübel-Schleifen. Wenn mir Familie, Freunde, der kommunikative Austausch mit anderen fehlte, dann wurde für mich das Papier zu meinem Zuhörer und besten Freund. Und das Schöne daran ist, dass das Papier ein sehr geduldiger Zuhörer ist. Ein Zuhörer, vor dem ich keine Angst haben muss, dass ich mit dem, was ich schreibend sage, auf irgendeine Art und Weise bewertet werde. Ich kann mich einfach dem Fluss des Schreibens hingeben. Ganz egal wie sich dieser gerade gestaltet. Holperig, flüssig, stockend – ganz egal. Es ist immer richtig, so wie es ist.

      Anfangs notierte ich mir einfach nur meine Gedanken und spürte schon bald, dass ich so dem heillosen Durcheinander in meinem Kopf wieder etwas mehr an Struktur geben konnte. Dabei wurde es immer wichtiger für mich, meinen Geist vom Grübeln zu befreien. Das geschriebene Wort, das dann auf dem Papier stand, war erst einmal geduldig. Es wurde zur Kenntnis genommen. Es fühlte sich damit bereits wertgeschätzt und gehört an. – Begonnen habe ich anfangs mit 30 Minuten täglichem Schreiben. Musste aber schon bald feststellen, dass es damit nicht mehr getan war. Die Worte strömten nur so aus mir heraus. Und je mehr sie strömten, umso leichter wurde mir. – Setzte ich mich anfangs oft mit verweinten Augen vor mein Notizbuch, so trat mit der Zeit durch das automatische Schreiben eine immense Erleichterung bei mir ein. Ich schrieb und schrieb. Und schreibend „befreite“ ich mich nach und nach von meinen Gedanken. Irgendwann – meist nach circa 10–15 Minuten – verspürte ich so etwas wie einen Switch.

      Dann spürte ich, wie sich die Worte veränderten, wie meine Sprache klarer wurde. Wie ich zusehends positiver in meiner Ausdrucksweise wurde und mir Botschaften notierte, als hätte mir da gerade eine gute Freundin, ein guter Freund geantwortet. Und mit der Zeit begriff ich: Ja, es gibt diesen inneren Freund. Und ich muss dafür nicht einmal zum Telefonhörer greifen, eine Nummer anrufen oder gar das Haus verlassen, um Freund „A“ oder Freundin „B“ aufzusuchen. Und ein ganz großer Vorteil von diesem Gesprächspartner war, dass ich ihn Tag und Nacht aufsuchen konnte. Er war immer für mich da. Dieser „Freund“ wurde ein weiterer Rettungsanker für mich, mit dessen Hilfe ich meine Gedanken sortieren konnte. Meist war die erste Phase des Schreibens noch sehr tränenreich, weil hier der Schmerz seinen Platz bekam. Doch je mehr Raum ich den so lange unterdrückten Gefühlen gab und mich schreibend durch sie hindurchfühlte, entstand so etwas wie ein geschützter Raum um mich herum. Ein Raum, in dem Schniefen und Weinen genauso erlaubt war wie wütend und patzig sein. In dem ich schreibend meine Stimme erhob. Mal ganz laut, mal ganz leise. So, wie mir gerade danach war. Und je mehr ich mich dieser zweiten Phase des Schreibens hingab, umso klärender, umso befreiender fühlte sich das Ganze an. Nach und nach konnte ich mich immer besser in den Prozess hineinfallen lassen und mir so meine Wut, meine Enttäuschung, Bitterkeit, Groll etc. von der Seele schreiben und mir die Themen anschauen, die hinter meiner Diagnose standen. Ich lernte die Dinge aus verschiedenen Perspektiven heraus zu betrachten und ließ es in aller Ruhe auf mich wirken. Dabei hatte ich stets das Gefühl, als ob mich eine „innere Stimme“, ein „innerer Coach“ durch den gesamten Prozess führt. Mein „innerer Heiler“, mein „innerer Therapeut“.

      Wofür ich unendlich dankbar bin: Die Lektüre der Bücher, sowie das automatische Schreiben schenkten mir eine gelassenere Sicht auf die Themen. So manche Lektüre brachte mir wichtige wissenschaftliche Erklärungen, mit denen sich dann auch mein Verstand zufriedengab. Und mit Hilfe der neuesten Bücher aus den Bereichen der Neurowissenschaften und Psychologie wurde mir nach und nach klar, dass dies alles nicht mein Einzel-Schicksal ist, sondern dass dies die Lebens- und Entwicklungsthemen von uns allen sind, die sich uns früher oder später zeigen. – Jedem zu seiner Zeit.

      Und immer mehr erkannte ich, dass es sehr wohl die Möglichkeit gibt, nicht nur den Körper, sondern auch den Geist selbst zu heilen und dass es hier nur der Disziplin, sowie eines mentalen Trainings bedarf. Also wurden Meditation, Achtsamkeit und „Gedanken-Hygiene“ wichtig für mich. Und schon bald stellte ich fest: Mein Stresslevel ließ tatsächlich nach. Das passierte zwar nicht von heute auf morgen, sondern bedurfte regelmäßigen Trainings. Und natürlich gab es auch Zeiten, in denen es wieder Rückfälle gab. Doch sie wurden immer weniger, weil ich inzwischen wusste, wie ich mir helfen kann ein solches Tal der Tränen auch wieder zu überwinden. Das Wichtigste und Befreiende hierbei war, dass ich wieder handlungsfähig wurde. Das Schreiben half mir, mir das Erlebte noch einmal in meinem Tempo und auf meine Art anzuschauen, daraus zu lernen und es letztlich als eine Erfahrung anzunehmen. Ich entdeckte, wie wohltuend es war, Dinge in Worte zu kleiden, von denen ich ursprünglich annahm, dass es dafür keine Worte gibt. Während des Schreibens war ich plötzlich nicht mehr allein. Das Gefühl der Einsamkeit veränderte sich. Ich brauchte schmerzvolle Gefühle nicht mehr länger wegzusperren. Hatte endlich einen geduldigen Zuhörer gefunden. Dem Papier konnte ich einfach alles anvertrauen. Es sprach nicht mit anderen Personen über mich. Es verletzte mich nicht. Mit dem Schreiben bekam ich Abstand zu meiner eigenen Geschichte. Konnte mich besser aus meinem „Grübelzwang“ befreien. Schreibend erleichterte sich mein Herz. Mein Innerstes bahnte sich einen neuen Weg. Im Prozess des Schreibens kam ich mir wieder nah. War ich fürs Erste unfähig und blockiert meine Gedanken und Gefühle (Trauer, Schmerz, Wut, Ärger etc.) sprachlich auszudrücken, so fand ich über die Schriftsprache Unterstützung und Halt. Hier konnte ich mich sicher fühlen. Im Grunde genommen gab mir Schreiben meine Stimme wieder. – Schreiben besitzt eine immense „Heilkraft“ für mich.

      „Die letzte Freiheit, die ein Mensch besitzt,

      ist die Entscheidung, die Dinge anders zu sehen.

      Jedes Leben hat sein Maß an Leid.

      Manchmal bewirkt eben dies unser Erwachen.“

      Viktor Frankl

      Viktor Frankl, der es in der schlimmsten Situation seines Lebens vermochte, aus einem anderen Blickwinkel heraus auf all das zu schauen, was ihm im Holocaust widerfuhr, hat mich zusätzlich inspiriert, ebenfalls aus einer ganz anderen Perspektive heraus auf all meine Lebensthemen (beruflich wie privat) und die Symptomsprache meines Körpers zu schauen.

      Sein Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Kösel Verlag, half mir wieder neugierig und offen zu werden für das, was mir die Lektionen meines Lebens mitzuteilen hatten. Und da uns wichtige Botschaften meist nie allein erreichen, kamen gleichzeitig mit der Lektüre dieses Buches folgende Worte Buddhas in mein Leben. Und so kristallisierte sich nach und nach mein neuer Denkansatz heraus:

       Okay, die Situation ist, wie sie ist. Du kannst augenblicklich nichts daran ändern.

       Nimm die Gegebenheiten so an, wie sie sind, und mache das Beste daraus.

       Nutze die Zeit und frage dich stattdessen: Wann hat es angefangen anders zu werden? – Was war das auslösende Moment?

       Welche Menschen waren daran beteiligt? – Was hat es mit dir gemacht? – Wie hast du reagiert? – Wie hast du dich dabei gefühlt?

       Welche Konsequenzen hast du daraus gezogen? – Hast du konsequent danach gehandelt oder nicht? – Was hat dich daran gehindert konsequent zu sein?

       Was hält dich in der Situation? – Wovor hast du Angst?

       Wo warst du dir selbst gegenüber untreu? – Wo hast du dich verloren?

       Gehe in diese Zeit, in diese Situation zurück und schau dir an, was zeitgleich, aber auch in den Jahren davor bereits an Veränderung geschah.

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