Wenn ich aus heutiger Sicht auf all dies schaue, dann wird mir klar, dass das nur ein allerletztes Sich-Aufbäumen war. Ein Versuch, das, was sich bereits wie eine Lawine in meinem Leben losgetreten hatte, mit letzter Kraft noch zu stoppen oder wenigstens insoweit aufzuhalten, dass vielleicht doch noch eine Art von Schadensbegrenzung möglich war. Eine erste Hilfe kam für mich in Form einer vierwöchigen Krankschreibung. Der Arzt, der mir diese verordnete, war aber auch so ehrlich, dass er aufgrund all der Vorkommnisse, die ich ihm berichtet hatte, dringend anriet, mich in die Hände eines Therapeuten zu begeben. Was ich dann auch tat. Zugegeben: anfangs hatte ich ein riesengroßes Thema damit, dass ich therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen musste. Doch mir war andererseits auch klar, dass es keine Alternative mehr gab, um mit der Vergangenheit und all den Themen allein klar zu kommen. Eine – so glaube ich – typisch westeuropäische und vor allem auch deutsche Grundhaltung, zu denken: „In meiner Familie hat noch keiner einer Therapie bedurft. Was für eine Schwäche. Jetzt brauche ich auch noch einen Therapeuten, der mir hilft, all das Chaos in mir zu sichten.“ Es gibt andere Gesellschaften, andere Nationen, die gehen damit wesentlich freier um. Da hat nahezu jeder, der etwas auf sich hält, einen Therapeuten, um an seinen Lebensthemen zu arbeiten. Kurzum: Ich hatte eine schreckliche Angst, mich auf diesen Weg einzulassen. Doch ich wollte wenigstens verstehen lernen, warum ich mit 55 Jahren, in der Mitte meines Lebens, vor einem derartigen Scherbenhaufen stand und alles zerstört hatte, was ich mir bis dahin aufgebaut hatte. Außerdem war da eine winzig kleine, kaum hörbare Stimme in mir, die mir sagte: „Bitte befreie mich! Bitte erlöse mich! Bitte gehe den Weg, der dir vielleicht als hart erscheinen mag. Sieh dir an, wie alles mit allem zusammenhängt, denn alles im Leben ergibt einen Sinn. Du kannst das jetzt vielleicht noch nicht sehen, doch mit der Zeit wird er sich dir erschließen. Bitte gehe diesen Weg. Befreie dich! Befreie mich! Befreie uns!“
Und so hörte ich mit so ziemlich letzter Kraft auf dieses zarte Stimmchen und ließ mich darauf ein, in die Therapie zu gehen. Dabei folgte ich dem Gedanken, dass mir jemand auf dem Weg durch die Therapie vielleicht einen Strohhalm reichen kann, mit dessen Hilfe ich mich aus all dem Sumpf, aus all der Gefangenschaft befreien kann. Tja, und diese Stimme, sowie dieses Fünkchen „Hoffnung“, das ich damals noch in mir trug, brachten mich dann auf den Weg. Auf einen sehr unbequemen, oft sehr steinigen Weg. Über etliche Geröllfelder und Gletscherspalten hinweg. Doch mit jedem Schritt, den ich machte, selbst wenn dieser noch so angsterfüllt und unsicher war, hatte ich schon bald das Bild im Kopf, als wollte ich hiermit meinen ganz persönlichen Achttausender besteigen. Meinen eigenen Mount Everest, meinen eigenen „Höhenweg“. Dafür musste ich nicht einmal bis nach Nepal fahren. Diese „Erstbesteigung“ meiner Bergwand fand für mich in unmittelbarer Nähe statt. Und dies mir, die ich zwar sehr gerne und ausdauernd spazieren gehe, aber um mich als Bergsteigerin oder gar als Gipfelstürmerin zu bezeichnen, kann ich nur sagen: weit gefehlt!
Zunächst verlangte unser deutsches Gesundheitssystem, dass ich mich für eine ambulante Therapieform und für eine entsprechende Medikamenten-Einnahme entscheide. Nur so wäre ich nachfolgend berechtigt, überhaupt einen Klinikplatz zu erhalten. Zum Glück nannte mir der Arzt meiner ersten Krankschreibung eine Therapeutin, die so einfühlsam in meine Person war, dass ich nicht sofort vom Weg der Therapie abgeschreckt wurde, sondern mich nach und nach und von Sitzung zu Sitzung etwas mehr öffnen konnte, damit ich über all den Schmerz, die Trauer, die Demütigung, die bittere Enttäuschung, die Wut einfach nur einmal weinen konnte. Oft fand ich gar keine Worte, um meine Situation klar zu beschreiben, doch bereits das Weinen tat mir schon gut und war wie ein kleiner Türöffner für mich. – Doch die Einnahme von Medikamenten verweigerte ich. Von Monat zu Monat folgten weitere Krankschreibungen, die es mir möglich machten, mich dieser gesamten Situation hinzugeben und mich zum ersten Mal in meinem Leben ausschließlich um mich selbst zu kümmern, bzw. das, was von mir übrig war, zu beweinen. Nach drei Monaten stellte sich für mich dann eine Erleichterung hinsichtlich der Situation an meiner Schule dadurch ein, dass mir eine Neurologin, bei der ich zwischenzeitlich vorstellig geworden war, für den Rest des Jahres 2016 eine Krankschreibung ausstellte. So konnten meine schulischen Aufgaben unter meinen Konrektorinnen besser verteilt, und mein Unterrichtsausfall viel besser umorganisiert werden. Denn neben den Therapie-Sitzungen war zu dieser Zeit das Schlimmste für mich, dass ich meinen Dienstaufgaben nicht nachkommen konnte. Und es dauerte sehr lange für mich, bis ich mir selbst endlich das Recht zusprach, dass ich dienstunfähig, weil krank, ausgelaugt, erschöpft war. Und mich einfach am Ende sah. Zwar sprach die Diagnose bereits für sich. Doch diese kannten nur meine Konrektorinnen und mein unmittelbarer Dienstvorgesetzter.
Selbst wenn ich noch ein Fünkchen Kraft gehabt hätte, in die Schule gehen konnte ich einfach nicht. Zwar habe ich die Schüler, die Lehrer, die zahlreichen nicht vorhersagbaren „Unbekannten“, den ganzen Trubel eines Schulalltages schmerzlich vermisst – immerhin war dies ja die allerbeste Ablenkung für mich –, doch mir war auch klar, dass ich jetzt aufgefordert war, mich nicht länger um all die Situationen und Belange im Außen zu kümmern, sondern endlich meine eigenen „Hausaufgaben“ zu machen. Dennoch hielt ich in dieser ersten Zeit über das Telefon soweit mir möglich war noch engen Kontakt mit meinen Konrektorinnen und Sekretärinnen. Letztlich dauerte es dann bis Ende September 2016, bis ich einen stationären Therapieplatz angeboten bekam. Zum Glück hatte ich bis zu dieser Zeit neben meiner ambulanten Therapeutin noch eine wunderbare Heilpraktikerin an meiner Seite, die mir hilfreich und liebevoll zur Seite stand. Und in den ersten sechs Wochen der Klinik-Therapie wusste ich oftmals nicht mehr, ob dies alles überhaupt noch real war, was da mit mir geschah. So gut ich konnte ließ ich mich auf die therapeutischen Sitzungen und das klinische Begleitprogramm ein. Mein damalig erklärtes Ziel war, dass mich die Klinik-Ärzte wieder so weit dienstfähig machen sollten, dass ich ab Januar 2017 wieder meinen Schuldienst aufnehmen kann. – Den Therapieverlauf will ich Ihnen als Lektüre ersparen. Nur so viel sei gesagt: Ich hatte zum Glück eine gute ärztliche und therapeutische Versorgung. Vor allem kam ich zu einer Therapeutin, die für mich das Beste war, was mir passieren konnte. Sie hatte sozusagen das „Herz am rechten Fleck“ und arbeitete mit mir sehr mitfühlend und einfühlsam. War fast wie eine Mutter für mich. Sie spürte intuitiv, was mir am meisten fehlte.
Nach diesen sechs Wochen, die für mich rasend schnell vergangen waren, war ich insoweit wieder „hergestellt“, dass ich meinen Alltag mit mir alleine wieder relativ passabel bewältigen konnte. Doch ich hatte ja noch die restliche Zeit des Jahres (Mitte November bis Ende Dezember plus die Weihnachtsferien), um nun wieder selbst Sorge für mein Wohlergehen zu tragen. Anfangs gelang mir das auch ganz gut. Doch je näher das Jahresende und damit Weihnachten kam, umso mehr zerbrach ein Teil meiner noch sehr zarten Welt, die ich mir bis dahin wieder mühsam aufgebaut hatte, erneut. Um es mit einem Begriff aus der Therapie zu benennen, hatte ich wohl so etwas wie einen „Flash-Back“. Grund dafür war noch so viel Trauer und Schmerz, die in mir lebten. Sowie die unausweichliche Konfrontation mit der ernüchternden Tatsache, dass ich so ganz allein mit mir war. – Nach den Tagen des Angenommen-Seins und Betreut-Werdens in der Klinik, war ich in meinem Alltag wieder ganz auf mich alleine gestellt. Da war zu dieser Zeit in meinem näheren Umfeld niemand, auf den ich hätte zugehen oder bei dem ich mich gar hätte anlehnen oder ausweinen können. Und so fühlte ich mich unter den Menschen mal wieder ziemlich „mutterseelenallein“.
Mein treuester Lebensbegleiter war die Einsamkeit. – Wie ein verletztes Tier zog ich mich zurück, um all die Wunden zu lecken und um ja nicht erneut verletzt zu werden. Was ich brauchte war Zeit. Ganz viel Zeit und ganz viel Stille.
Unbewusst