Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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versammelt und unterhielten uns über unsere waghalsigsten Reiseabenteuer. Einer der jungen Männer hatte sogar schon die Pyrenäen auf dem Mountainbike erkundet. Ich lauschte vergnügt den Stories der anderen, hielt mich selbst aber zurück, glücklich, einfach nur Publikum sein zu dürfen. Nach dem Essen folgte ich Milena in den Flur, wo sie für uns beide je einen ziemlich großen Regenschirm hervorkramte. Wir hatten uns darauf verständigt, einen kleinen Verdauungsspaziergang zu machen. Mit etwas zu viel Pizza im Bauch liefen wir bei strömendem Regen über die romantischen Ness Inseln, die wir über eine Hängebrücke erreichten. Geduldig lauschte meine Gastgeberin meiner gerafften, wohl nicht ganz alltäglichen biografischen Erzählung und blieb auch dann noch aufmerksam, als ich zu den Erkenntnissen überging, die ich bis zu diesem Zeitpunkt daraus gewonnen hatte. Ihr Schweigen deutete ich gelegentlich auch als Zeichen, dass sie mir nur begrenzt folgen beziehungsweise zustimmen konnte, daher hielt ich es für angebracht, immer wieder das Thema zu wechseln und mich auf Bereiche zu konzentrieren, die vermutlich mehr ihrem Erfahrungshorizont entsprachen. Als wir uns schließlich wieder Milenas Haus näherten, erklärte sie mir, es gäbe um die Ecke einen Supermarkt, falls ich mir am nächsten Morgen etwas zum Frühstück holen mochte. Dann verabschiedete sich von mir, um sich auf den Weg zu ihrem Freund zu machen.

      Als ich über die Außentreppe zum Eingang hinaufstieg, staunte ich wieder einmal mehr über die Vielseitigkeit all der Couchsurferfahrungen, die ich in so kurzer Zeit hatte sammeln dürfen, und auch darüber, welches Bedeutungsspektrum sich hinter dem Wort „Gastfreundschaft“ verbarg. Und wenngleich ich zugegebenermaßen gerne mit einem gemeinsamen Frühstück in den nächsten Tag hätte starten wollen, sollte meine Enttäuschung nur vorrübergehend anhalten, denn zwölf Stunden später erwiesen sich Milena und ihr Partner als meine perfekten Reiseführer …

      Selten zuvor hatte mich eine Landschaft derart in Entzücken versetzt wie die von kleinen Bächen und Tümpeln durchzogenen Heidelbeerwälder, die wir auf dem ausgeschilderten Fußweg zum Fyrish Monument, acht Kilometer westlich von Alness, durchquerten. Nach dem einstündigen Anstieg erwartete uns nicht nur ein beeindruckender Blick auf das Denkmal, sondern auch eine atemberaubende Rundumschau und eine fabelhafte Aussicht auf die Cromarty Firth. Diese fesselte mich noch mehr als die Geschichte des hochrangigen Soldaten Sir Hector Munro, der in Indien gedient und das Denkmal 1783 aufgestellt hatte, welches nun an die Einnahme des indischen Nagapattinam erinnern sollte.

      Nach vergeblichen Versuchen, das Monster Nessie bei einem nächsten Halt an der Burgruine Urquhart Castle und einem weiteren Abstecher in den beschaulichen Ort Drumnadrochit am Westufer des Loch Ness zu sichten, blieb bezüglich meiner Reise in das nördlichste Land Großbritanniens nur noch ein Wunsch offen: die Verkostung eines edlen schottischen Whiskys. Dafür wollten Milena und ihr Lebensgefährte im Verlauf unseres Abendprogramms sorgen.

      Einige Stunden später, nach einer warmen Dusche, saß ich am Tisch eines Restaurants und betrachtete hungrig den dampfenden Kloß namens Haggis, der in einer cremigen, köstlich riechenden Whiskysoße vor mir auf dem Teller lag. Die Neugier auf das traditionelle Nationalgericht ließ mich an diesem Abend sogar von meiner ansonsten überwiegend vegetarischen und nahezu veganen Ernährungsweise Abstand nehmen, und ich konnte nicht leugnen, dass ich Milenas Essensempfehlung bis zum letzten Bissen genoss – sogar so sehr, dass ich mir nach einem kurzen Blick in meinen Geldbeutel eine zweite Portion bestellte. Meine Bargeldvorräte gingen zwar allmählich zur Neige, aber sie würden allenfalls noch ausreichen, um an diesem Abend die Rechnung für uns zu bezahlen.

      Obwohl ich überraschenderweise von meinen Gastgebern zum Essen eingeladen wurde, bat ich Milena vorsorglich auf dem Weg in die nächste Bar, bei einer Bank Halt zu machen. Während die junge Frau mir den Schirm hielt, stand ich gut gelaunt vor dem Geldautomaten und steckte meine EC-Karte in den Schlitz. Ich realisierte nur in Zeitlupe das kurze ratschende Geräusch, dann riss ich erschrocken die Augen auf. Zu meinem Entsetzen kam weder Geld zum Vorschein, noch spuckte das Gerät meine Karte wieder aus. Stattdessen las ich auf dem Display, die Karte würde einbehalten. In diesem Moment fiel mir ein, dass meine Giro-Karte abgelaufen war und die neue vermutlich bereits in meinem Briefkasten in über 1500 Kilometern Entfernung auf ihre Freischaltung wartete. Nervös zückte ich meine Kreditkarte und versuchte mich an meinen PIN-Code zu erinnern, den ich so gut wie noch nie benutzt hatte, da bei Einkäufen im Geschäft meist die Unterschrift genügte. Nach zwei Fehlversuchen brach ich die Transaktion vorsorglich ab und blickte bekümmert zu Milena.

      „Ich kann dir aushelfen“, bot sie ohne zu zögern an.

      „Vielleicht kann ich meine Mutter kontaktieren und sie bitten, sich in meinem Büro auf die Suche nach der PIN zu machen …?“, überlegte ich laut, wenngleich mir diese Idee ein wenig umständlich vorkam und zudem sofort peinlich war – ein gefundenes Fressen, mir Vorhaltungen zu machen, wie leichtsinnig und wenig vorausschauend ich wieder einmal verreist wäre.

      „Denk darüber nach, Annie.“ Milena zuckte mit den Schultern.

      Für heute Abend reichte mein Bargeld vielleicht noch. Aber ich hatte noch zwei Tage zu überbrücken bis zur Heimreise. Es war mir unangenehm, Milenas Angebot anzunehmen, aber nicht ganz so unangenehm, wie meine Mutter um Hilfe bitten zu müssen. Also fragte ich nach ihrer Bankverbindung, damit ich ihr das geliehene Geld zurücküberweisen könnte.

      „Du machst wohl Witze”, lachte Milena und hielt mir einen Schein entgegen. „Nimm, es ist okay.”

      „Na gut, für alle Fälle.“ Dankbar und berührt von der Hilfsbereitschaft der Frau, die ich erst einen Tag kannte, griff ich nach den zwanzig Pfund und freute mich nach dem unerwarteten Missgeschick nun noch mehr auf den angekündigten Whisky im nächsten Pub, der noch auf dem Programm stand.

      Nach einem geselligen Abend unter Schotten war es am nächsten Tag Zeit, nach Edinburgh zurückzukehren. Dort würde ich noch einmal eine letzte Nacht bei Scarlett verbringen und anschließend meinen Heimflug nach Deutschland antreten. Auf dem Weg von Inverness nach Edinburgh – diesmal teilte ich den Bus mit wesentlich ausgeschlafeneren Insassen – fasste ich den Entschluss, die letzten vierundzwanzig Stunden meiner Reise so sparsam wie möglich zu leben. Zugegebenermaßen fiel es mir immer noch schwer, Milenas finanzielle Hilfe anzunehmen, und ich fragte mich, ob es mir gelingen könnte, meine letzten Pence so einzuteilen, dass ich ihr die zwanzig Pfund vor meinem Abflug noch mit der Post zurückschicken könnte.

      Um mir die Zeit während der dreieinhalbstündigen Fahrt zu vertreiben, nahm ich meinen Reader aus dem Rucksack und widmete mich meiner gegenwärtigen Lektüre über ein Leben in Liebe. Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, überflog ich die Literaturhinweise im Anschluss an die Informationen über den Autor und hielt bei einem Namen plötzlich inne: Walsch, Neale Donald. Ach nein! War das nicht der Autor, den mir Luigi so ans Herz gelegt hatte? Ich suchte nach der Notiz in meinem Handy. Bingo! Die Gespräche mit Gott schienen also auch den Autor meines Buches nachhaltig beeinflusst zu haben, zumindest führte er Mister Walsch gleich fünfmal hintereinander auf. Kein Wunder, dass Luigis Weltanschauung und die gelesenen Inhalte in dieselbe Richtung gingen. Das erklärte nun auch die auffallende Übereinstimmung in unseren Intensiv-Gesprächen.

      In Vorfreude auf die neue Lektüre stieg ich am Busbahnhof in Edinburgh aus und kaufte mir auf dem Weg zu Scarletts Appartement ein trockenes Weißmehlbrötchen und eine Banane. Mit diesem kostengünstigen Frühstück und ein bisschen weiterer Verpflegungsunterstützung von Seiten Scarlett würde mein Geld auch ohne Milenas Spende noch ziemlich genau für den Bustransfer zum Flughafen reichen …

      Mein Plan ging auf: Als vorbildliche Gastgeberin sorgte Scarlett auch am letzten Tag für mein leibliches Wohl. Mit den letzten Pence in meinem Geldbeutel kaufte ich am nächsten Morgen am Flughafen eine Briefmarke, die ich auf einen an Milena adressierten Umschlag klebte, und schickte die zwanzig Pfund Sterling zusammen mit einem Dankesschreiben nach Inverness.

      Ein Gefühl unendlicher Fülle und Dankbarkeit durchströmte mich, als ich dem Boardingaufruf folgte und in den Flieger stieg. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich dem Ruf meiner Seele bewusst gefolgt. Ich hatte mir mit meiner Reise nach Schottland einen lang gehegten Herzenswunsch erfüllt. Die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen zwei Wochen hatten mein Leben auf vielfältige Art und Weise bereichert und damit jeden Hotelurlaub, den ich bis