Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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Menschen in meinem Leben im Laufe meiner Seelenreise aus den Augen verloren hatte: mich selbst.

      MEHR KATER ALS KATZE

      Trotz der Ambivalenz zwischen meiner Liebe zu Philippe und der Unfähigkeit, mich an ihn zu binden, starteten wir nach meiner Hochzeitsabsage noch zwei Versuche, uns in gemeinsamen Urlauben wieder näherzukommen und uns von der Tragödie zu erholen. Doch nachdem weder Bad Krotzingens Kurluft noch die Brandung des holländischen Ijsselmeeres meine Verwirrung wegspülen konnten, kam ich zu der Erkenntnis, dass nur ein Urlaub ohne Philippe für Klarheit sorgen könnte. Also folgte ich der Einladung einer Freundin und reiste nach Berlin, um für eine Woche ihre Katzen zu hüten. Ich hoffte, mit etwas räumlichem Abstand zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen.

      Als ich die charmante Altbauwohnung im Nordwesten des Stadtteils Prenzlauer Berg betrat, klebten überall in den Zimmern kleine grüne Ost-Ampelmännchen-Klebezettel mit handschriftlichen Notizen, welche sie mir vor ihrer Abreise hinterlassen hatte. So sollte mich die Berliner Kultfigur zum Beispiel daran erinnern, die Fenster wegen der Katzen nur anzukippen, die Blumen auf dem Balkon zu gießen und nur ein Päckchen Nassfutter am Tag zu verwenden. Schnell schloss ich Freundschaft mit den flauschigen Vierbeinern Gini und Gismo, deren Pflege der Ausgleich für meine kostenlose Unterkunft in der Bundeshauptstadt war. „Vierbeinig“ traf allerdings eher auf Gismo als auf Gini zu, denn die hellgraue Katzendame hatte, wie mir bei einem früheren Besuch erklärt worden war, infolge eines Sturzes aus dem fünften Stock ein Bein verloren. Gekonnt humpelte sie also dreibeinig durch die Wohnung und sprang dieser Einschränkung ungeachtet hin und wieder mit einem gekonnten Satz auf die Couch, wo sie genau wie Gismo die Streicheleinheiten genoss, die wir regelmäßig miteinander austauschten.

      Wenn ich nicht damit beschäftigt war, mich um Gini und Gismo zu kümmern, die Couch von Katzenkotze zu befreien oder mich von einem mobilen Shiatsu-Therapeuten auf einem ergonomischen Massagestuhl im Wohnzimmer durchkneten zu lassen, war ich nach Leibeskräften darum bemüht, unter Zuhilfenahme verschiedener Berlin-Reiseführer Tagestouren zu den beliebtesten Sehenswürdigkeiten auszutüfteln. Mit diesem Ablenkungsprogramm hoffte ich meinen aufgewühlten Geist zu klären und den Schmerz zu lindern über den Entschluss, der in mir zu reifen begann. Immer deutlicher spürte ich, dass ich nur dann zu meinem inneren Gleichgewicht zurückfinden würde, wenn ich mich ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Erwartungen meines Verlobten ausschließlich auf mich konzentrierte. Jedoch löste der Gedanke, mich von Philippe zu trennen, ein derartiges Gefühl der Einsamkeit und Ohnmacht in mir aus, dass es mir fast das Herz zerriss.

      Es war ein emotionaler Albtraum. Ich zwang mich täglich, Dinge zu notieren, für die ich dankbar war, und zählte abends die Stunden, in denen ich es geschafft hatte, nicht zu weinen. Enttäuscht stellte ich an jedem Morgen erneut fest, dass mein Leben tatsächlich wie ein brennender Turm auseinandergebrochen war. Es war kein Traum, kein schlechter Witz. Erschüttert drückte ich nach dem Aufwachen meine von den vielen Tränen verquollenen Augen wieder zu, ohne zu wissen, wie ich den nächsten Tag überstehen sollte. Einzig Gini und Gismo, die von Hunger getrieben pünktlich um 5.45 Uhr an der Schlafzimmertür kratzten, bewogen mich dazu, trotz der alkoholbedingten und von Übelkeit begleiteten Kopfschmerzen aus dem Bett zu schlüpfen und mit größtem Kraftaufwand einen Tagesplan zu erarbeiteten, der mich zumindest vorübergehend von dem immensen Schmerz in meinem Innern ablenken sollte. Während ich durch den Mauerpark spazierte, mit dem Fahrrad den Treptower Park erkundete oder abends eines der Restaurants am Helmholzplatz aufsuchte, dem beliebtesten Treffpunkt im Kiez, gelang es mir nur unter enormer Anstrengung, nicht lautstark in der Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen. Fortwährend sendete ich Befehle an mein Gehirn, mittels derer ich verzweifelt versuchte, die Maschine in Gang zu halten: Fahrrad abschließen! Atmen! Durch den Park laufen! Atmen! Etwas essen! Atmen!

      Meine gesamte Lebensenergie hatte sich erschöpft. Niedergeschlagen hangelte ich mich von einem Tag zum nächsten, als wäre mein Leben ein einziger Kampf. Wie gerne hätte ich meiner Schulfreundin geglaubt, die mir während der schwersten Stunden meines Lebens immer wieder Trost gespendet hatte und der ich nun schon mehrfach durchs Telefon mein Leid ins Ohr geschluchzt hatte. „Ich kann das Licht am Ende des Tunnels schon fast sehen, Annie!“, hatte sie versucht, mich zu trösten, doch alles, was ich empfand, war Leere und Dunkelheit.

      Nach einer der schwersten Wochen meines Lebens war die Entscheidung gefallen. Mit zittrigen Händen versuchte ich auf der Zugfahrt von Berlin nach Hause das Gespräch schriftlich vorzubereiten, in dem ich Philippe in Kürze die Trennung aussprechen würde.

      Wenige Stunden später saß ich auf dem elektronisch verstellbaren Sofa unseres Wohnzimmers, das wir zusammen mit dem Couchtisch erst vor wenigen Monaten gemeinsam ausgesucht hatten, und erklärte ihm, wie sehr ich in der Vergangenheit darum bemüht gewesen war, mich seinem Tempo anzupassen, und dass ich dabei meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse ignoriert und überhört hatte. Ich erzählte ihm von meinem Wunsch, wieder zu der Leichtigkeit zurückzufinden, die ich in letzter Zeit so vermisst hatte, und gestand schließlich, außer einer Trennung keine andere Möglichkeit zu sehen, mich von dem Druck zu befreien, aber auch von der Hoffnung, dass bis zu der geplanten kirchlichen Trauung Ende August alles gut werden würde.

      Von Leichtigkeit war vorerst jedoch weit und breit noch keine Spur zu sehen, als ich kurze Zeit später am Gartentor meines Elternhauses weinend in den Armen meiner Mutter zusammenbrach. Mein Leben war innerhalb weniger Wochen von einem gewaltigen inneren Erdbeben erschüttert worden und wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt. Ängstlich und orientierungslos stand ich vor dem Nichts – ohne die geringste Ahnung, woran ich mich festhalten könnte, wie es weitergehen sollte und welche Möglichkeiten vor mir lägen.

      IRRSEIN IST MENSCHLICH

      Etwas nervös blickte ich in die Runde der Mitpatienten, die sich in einem Stuhlkreis im Dachgeschoss der Klinik für Allgemeine Psychiatrie versammelt hatten, und faltete das Blatt Papier mit der kleinen Geschichte über das Loslassen auseinander. Ich hatte mich mit dem Text auf die Sitzung vorbereitet, weil die Psychologin, welche die zweimal wöchentlich stattfindende Achtsamkeitsgruppe leitete, mich diesmal damit beauftragt hatte, kurzfristig für sie einzuspringen. Vermutlich wollte sie mich durch das Übertragen von etwas Verantwortung allmählich wieder auf den Einstieg ins Berufsleben vorbereiten – nach acht Wochen Aufenthalt.

      Nach einigem Räuspern begann ich zu lesen:

      Zwei Mönche befanden sich auf dem Weg zurück zu ihrem Kloster. Unterwegs kamen sie an einen Fluss, an dessen Ufer eine wunderschöne Frau in einem edlen seidenen Gewand saß. Es war offensichtlich, dass sie den Fluss nicht zu überqueren vermochte, ohne mitsamt ihrer Kleidung nass zu werden. Ohne lange zu überlegen ging der ältere der beiden Mönche zu ihr, hob sie auf ihre Schultern und watete mir ihr durchs Wasser. Am anderen Ufer angekommen setzte er die Frau behutsam ab. Unversehrt und trocken bedankte sich die Frau für die erhaltene Hilfe und ging ihres Weges. Nachdem sich die Frau verabschiedet hatte, setzten auch die beiden Männer ihren Weg fort. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Dann wandte sich der jüngere der beiden, den die Gedanken an die zurückliegende Hilfeleistung offenbar immer noch quälten, an seinen hilfsbereiten Bruder: „Warum hast du das getan? Du weißt doch, dass uns der Körperkontakt zu Frauen streng untersagt ist!“

      Verwundert schaute der ältere Mönch seinen besorgten Bruder an und antworte ruhig: „ICH habe die Frau bereits vor Stunden am Ufer abgesetzt. DU scheinst sie hingegen immer noch zu tragen.

      Nachdem ich meinen Vortrag beendet hatte und meine Stimme verhallt war, breitete sich Schweigen unter den altersgemischten Patienten aus, von denen die meisten unter sogenannten „monopolaren“ oder „bipolaren affektiven Störungen“ litten. Geduldig wartete ich auf einen Meinungsaustausch zum Inhalt der vorgelesenen Geschichte. Dabei fragte ich mich, wann es mir selbst gelingen würde, meine sorgenvollen Gedanken über die Vergangenheit und Zukunft abzustreifen und meine Aufmerksamkeit wieder darauf zu richten, was im Hier und Jetzt geschah. Von morgens bis abends war ich damit beschäftigt, mir den Kopf zu zermartern, was einer glücklichen Beziehung mit Philippe im Wege lag, warum es überhaupt so weit