Auch wenn ich meinen zweieinhalb Jahre jüngeren Geschwistern laut Aussage meiner Mutter vom ersten Tag an mit Liebe, Verständnis und Einfühlungsvermögen begegnet war, so hatte die Attraktion, die nicht nur durch die Medien, sondern auch durch aller Munde ging, neben der Freude auch einen bitteren Beigeschmack hinterlassen, der meine kleine Seele traurig gestimmt hatte. Die ungeteilte Aufmerksamkeit, die ich von meinen Eltern bis zu meinem zweiten Lebensjahr erhalten hatte, war mit der Geburt der „ersten Vierlinge, die in der Frauenklinik geboren wurden“ und dem kurz darauffolgenden Tod eines der Neugeborenen dem Gefühl gewichen, mit meinen Bedürfnissen nicht mehr gesehen und gehört zu werden – so sehr ich mich auch angestrengt hatte, ein besonders braves und anständiges Kind zu sein. Selbst wenn meine Mutter nach ihren Möglichkeiten stets darum bemüht gewesen war, in ihrem gut gefüllten Alltag und neben ihrer Trauer auch Zeit einzig mit mir zu verbringen, so hatte die vierfache „Entthronung“ anscheinend tiefere Wunden hinterlassen, als ich es mir bis dahin eingestanden hatte.
Endlich kamen die Tränen ins Rollen, die ich am Vormittag im Klassenzimmer aufgrund meiner „Vorbildfunktion“ als Lehrerin krampfhaft zurückgehalten hatte, und begleiteten die lauten Klagelaute, die ich in dem Bestreben, meine Eltern mit Stolz zu erfüllen und ihnen nicht noch mehr Arbeit zu machen, all die Jahre meiner Kindheit hinuntergeschluckt hatte. Dabei kümmerte ich mich nicht darum, dass die übrigen Hausbewohner aufgrund der hellhörigen Bauweise vermutlich regen Anteil an meiner Traurigkeit nahmen.
Mit dem Fühlen des Schmerzes und der Erkenntnis über die tieferen Zusammenhänge meiner morgendlichen Panikattacke wurde allmählich eine Erleichterung in mir spürbar. Als das innere Beben an Heftigkeit verloren hatte und der emotionale Sturm abgeklungen war, erinnerte ich mich schließlich an den Fortgang der Übung: Ich visualisierte einen hellen Lichtstrahl, der vom Himmel auf die dreijährige Annie hinableuchtete, bis diese vollständig in glitzerndes goldgelbes Licht eingehüllt war. Dann stellte ich mir vor, wie ich als kleines Mädchen in der goldenen Lichtsäule langsam nach oben schwebte. Oben angekommen setzte ich mich an die Seite von Jesus, der mich sanft in seine Arme schloss und liebevoll auf die Stirn küsste. In der Geborgenheit und Liebe des aufgestiegenen Meisters ließ ich die kleine Annie noch eine Weile verweilen, bis sich ihr Herzschlag wieder vollständig normalisiert hatte. Als ich meiner Umgebung wieder gewahr wurde und meine Augen öffnete, breitete sich zum ersten Mal an diesem Tag ein Gefühl von Frieden in mir aus.
Lächelnd wanderten meine Gedanken noch einmal zu Luca, Lassad und Linus zurück – jenen Schülern, die die Ohnmachtsgefühle am Vormittag in mir ausgelöst hatten, weil ich von ihnen nicht „erhört“ worden war. Es war offenbar kein Zufall, dass es genau drei Schüler gewesen waren, die mich so aus der Fassung gebracht hatten – ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihre Namen den gleichen Anfangsbuchstaben aufwiesen. Auch die Vornamen meiner drei überlebenden Mehrlingsgeschwister, welche mit einem Schlag die gesamte Aufmerksamkeit von mir abgezogen hatten, begannen alle mit dem gleichen Buchstaben.
„Heute ward IHR meine Lehrer“, sagte ich innerlich zu Luca, Lassad und Linus. „Ihr habt mich auf meine alte, unverheilte und verdrängte Wunde aufmerksam gemacht, die jetzt erst heilen kann. Dafür danke ich euch von ganzem Herzen.“
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