Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
Скачать книгу
zum ersten Mal in meinem Leben bewusst anders zu reagieren? Erst gestern hatte ich nach der Buchlektüre auf Luigis Couch die Entscheidung getroffen, mein Leben grundlegend zu ändern, und jetzt barg genau dieser Moment das Potenzial, einen neuen Gedanken zu denken, wenigstens über Zeit. Augenblicklich entschied ich, genau das Gegenteil von dem zu tun, was mir mein Verstand einzureden versuchte: Ich blieb stehen. Ich nahm meine innere Unruhe wahr, spürte meinen schnellen Herzschlag und hörte, wie mein Atem von dem kurzen Sprint hastig und deutlich vernehmbar aus meinem Mund ein- und ausströmte. Dann versuchte ich zur Ruhe zu kommen und hörte alsbald, wie ein neuer Vorsatz flüsternd und gleichzeitig voller Entschlossenheit den Weg über meine Lippen nahm:

      „Heute entscheide ich mich neu. Ich entscheide mich, neu zu denken über die Zeit, die ich habe. Es ist genug Zeit da. Von heute an will ich mich nicht mehr abhetzen, sondern mir Zeit nehmen für das Wichtigste in meinem Leben: für mich selbst. Ich entscheide mich für die Langsamkeit.“

      Während ich noch eine weitere Minute mit geschlossenen Augen auf dem Gehsteig verweilte, kam mir die Idee, Scarlett einfach anzurufen, um ihr Bescheid zu geben, dass ich mich verspäten würde. In aller Seelenruhe griff ich nach meinem Handy und wählte Scarletts Nummer, um ihr die Situation zu erklären und mir Zeit zu verschaffen. Erleichtert über ihre verständnisvolle Reaktion setzte ich mich wieder in Gang, diesmal aber mit der größtmöglichen Achtsamkeit: einen Fuß vor den anderen. So langsam und bewusst wie schon lange nicht mehr ging ich die Straße entlang, bis ich schließlich eine halbe Stunde später mein Nachtquartier erreichte. Stolz hielt ich an der Straßenecke kurz vor Scarletts Wohnung inne und klopfte mir in Gedanken auf die Schultern. Scarlett war nicht wegen Schlafentzug gestorben. Unser Verhältnis war nach wie vor ungetrübt. Obendrein war es mir gelungen, zum ersten Mal in meinem Leben aus der Masse der Gehetzten auszusteigen und bewusst Nein zur Rastlosigkeit zu sagen.

      Ein Gefühl von Freiheit durchströmte mich, als ich mich wenig später in die wohlriechende Bettwäsche kuschelte. Ruhig und friedlich schlief ich auf meinem Gästebett in Scarletts Zimmer ein.

      Silvester stand vor der Tür und ganz Edinburgh befand sich unübersehbar in den Vorbereitungen für Hogmanay, jenem schottischen Festtag, an dem sich Hunderttausende von Menschen zum Jahreswechsel in der Hauptstadt treffen. Ich freute mich auf das gigantische Feuerwerk vor der spektakulären Kulisse des Edinburgh Castles und setzte große Erwartungen in die legendäre Party, die laut Aussage diverser Veranstalter in keinem anderen Land der Welt mit vergleichbarer Leidenschaft gefeiert wird. Doch statt einem unvergesslichen Silvesterrausch begleitete mich ein zunehmender Schmerz in der Nierengegend beim abendlichen Übergang in das neue Jahr, sodass ich mein Partyvorhaben revidierte und mich für einen kurzen Besuch in der Notaufnahme des nächsten Krankenhauses entschied. Den Rest der Nacht verbrachte ich mit Scarlett und Jesus von Nazareth zu Hause. Während draußen Tausende von Feiernden entlang der Princess Street zu Livemusik tanzten, verfolgten Scarlett und ich die von Mel Gibson verfilmte Verurteilung und Kreuzigung Jesu durch die Römer und seine Auferstehung.

      Wenngleich dieses Silvester abrupt eine ganz andere Richtung nahm, als ich es geplant hatte, musste ich mir eingestehen, dass mir die Filmauswahl durchaus sympathisch war. Bereits als Kind hatte die Figur Jesus großes Interesse in mir hervorgerufen, und die Geschichten über ihn hatten den ansonsten eher langweiligen Konfirmandenunterricht für mich lohnenswert gemacht. Später hatte ich den Messias zu meinem Thema der mündlichen Abitur-Prüfung erkoren und mein Wissen über ihn vertieft. Ganz besonders faszinierten mich die Wunder, die ihm zugeschrieben wurden und die Versuche, diese wissenschaftlich zu erklären. Auch während meines Studiums als Grund- und Hauptschullehrerin begleitete mich evangelische Theologie als Grundlagenwahlfach, und ich besuchte mit Vorliebe Vorlesungen zu den Themen „Jesus“ und „Engel“. Was ich bei aller Bewunderung für den weisen Mann aus Nazareth allerdings nie so recht verstanden hatte, war die Bedeutung der Aussage, Jesus wäre „für unsere Sünden“ gestorben und demzufolge wäre das ewige Leben ausschließlich von ihm und seinem ultimativen Opfer abhängig. Ich empfand einen Widerspruch zwischen den Botschaften des Mannes, der aufgrund seiner ausgeprägten Nächstenliebe verständlicherweise eine große Anziehung auf die Menschen der damaligen Zeit ausgeübt hatte, und dem, was die Kirche daraus gemacht hatte. Wie konnte beispielsweise Jesus, und zwar nur er allein, der Sohn Gottes gewesen sein, wenn er, derselbe Mann, auch verkündet haben sollte: „Was ich bin, seid ihr ebenso. Was ich tun kann, könnt ihr ebenfalls tun. Diese Dinge und mehr werdet ihr auch tun.“ Offenbar hatte der Klerus ihm diesen alleinigen Status zugeschrieben. Außerdem sagte man den großen Meistern anderer Religionen doch ähnliche Positionen nach.

      Ich war noch tief berührt von den haarsträubenden Ereignissen, die wir über den letzten Abschnitt im Leben Jesu auf Scarletts Fernseher verfolgt hatten, da stoppte Scarlett den Abspann und fragte mich, ob ich Lust hätte, in die nahegelegenen Bruntsfield Links zu laufen, um das Silvesterfeuerwerk zu bestaunen. Ich nickte – froh darüber, dass die verordneten Schmerzmittel bereits Wirkung zeigten – und folgte Scarlett in den Flur, um die Schuhe anzuziehen.

      Eine halbe Stunde später fand ich mich inmitten mehrerer Hundert feierfreudiger Menschen wieder, die kurz vor Mitternacht wie Bienen aus ihren Häusern geschwärmt waren und sich nun auf der Rasenfläche im Park südlich des Edinburgh Castles tummelten. Ich griff in die Tasche meines grauen Wintermantels, um die zwei Piccolo hervorzuzaubern, die ich in einem kleinen Lebensmittelladen um die Ecke am Vormittag besorgt hatte. Mit den Worten „Happy New Year!“ hielt ich Scarlett freudestrahlend eine der beiden Fläschchen unter die Nase, überzeugt davon, dass sie heute ebenso eine Ausnahme bezüglich ihrer Grundsätze machen würde wie am ersten Weihnachtsfeiertag bei Amber.

      „Nein danke“, lehnte sie meine Einladung lächelnd ab. Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: „Trinken in der Öffentlichkeit ist illegal.“

      Ich sah mich um und blickte über die größtenteils stark alkoholisierte Menschenmasse, die wie ein bunter Teppich die Rasenfläche überlagerte. Scarletts Antwort erschien mir vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der unzähligen Bierflaschen und Plastikbecher, die rundherum auf dem Rasen verstreut lagen, wenig plausibel. Nach einem kurzen Gefühl der Enttäuschung darüber, dass meine Überraschung nicht wirklich gelungen war und ich keine andere Wahl hatte, als mir selbst zuzuprosten, entschied ich mich, Scarletts Entscheidung zu akzeptieren und hieß das neue Jahr willkommen – in der Hoffnung, dass dieses weniger schmerzhaft und turbulent für mich ausfallen würde als die zurückliegenden zwölf Monate.

      Am Neujahrstag saß ich zusammen mit etwa vier Dutzend silvestergeschädigten Touristen in einem Reisebus und war auf dem Weg in die Highlands. Ich ließ meinen Blick über die Menschen schweifen, die größtenteils schliefen oder mit offenen Augen vor sich hin dösten. Manche machten regen Gebrauch von den an den Sitzen im Mittelgang befestigten weißen Müllbeuteln, um ihren Mageninhalt darin zu entleeren. In Anbetracht des Bildes, das sich mir bot, erschien mir der unerwartet atypisch verlaufene Silvesterabend, den ich und Scarlett der Passion Christi gewidmet hatte, in einem völlig anderen Licht. Ich war dankbar, dass es mir körperlich besser und auch seelisch recht gut ging, und freute mich auf meine nächste und letzte Couchsurf-Begegnung: Milena.

      Die großgewachsene junge Polin mit rotem Kurzhaarschnitt und hellem Teint empfing mich am Busbahnhof der Hauptstadt des schottischen Verwaltungsbezirks Highland mit quirligem Geplapper und Regenschirm. Zu Fuß liefen wir durch das verregnete Inverness und überquerten den Ness über eine kleine bunt beleuchtete Fußgängerbrücke, um zu ihrem mehrstöckigen Zuhause am anderen Ufer zu gelangen. Zusammen mit vier weiteren WG-Mitgliedern bewohnte Milena ein gemütliches Steinhaus direkt am Fluss, der von dort zu seiner Mündung in den Moray Firth fließt. Ein Wall aus Sandsäcken zierte das Ufer und versuchte die Anwohner vor dem Hochwasser zu schützen, das das Resultat starker Regenfälle an den vergangenen Tage war. Milena führte mich in ihr Zimmer im zweiten Stock, welches sie für mich hergerichtet hatte. Sie selbst würde bei ihrem Freund übernachten, der nur ein paar Häuser weiter in derselben Straße wohnte, wie sie mir erklärte. Das Zimmer war sauber und aufgeräumt und besaß sogar einen Kamin, der aber scheinbar schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden war.

      „Ich dachte, wir könnten heute Abend Pizza bestellen“, schlug Milena vor. „Ich warte unten in der Küche auf dich. Dann kannst du erstmal ankommen und dich