Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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erfahren. Dadurch waren mir neue wertvolle Erfahrungen ermöglicht worden, die meinen Horizont erweitert hatten.

      Als wir durch die Wolkendecke flogen und über mir die Bläue des Himmels erstrahlte, beschlich mich das Gefühl, dass meine Reise nach Schottland den Beginn einer folgenschweren Reise zu mir selbst markieren könnte, auf der sich mir ein Leben voller Freude, Frieden, Freiheit und Erfüllung enthüllen würde, und dieses Leben wartete womöglich nur darauf, von mir entdeckt zu werden.

      EINE SACHE VON „SCHULREIFE“

      Nach den Ferien startete ich mit noch reduzierter Stundenzahl in den zweiten Schulabschnitt seit meiner Wiedereingliederung. Während sich allmählich alles um die bevorstehenden Halbjahresinformationen drehte, erreichte mich in einer Gesamtlehrerkonferenz eine Ankündigung, die mich aufhorchen ließ: Unsere Schule müsste wegen des derzeitigen Lehrerüberhangs, so verkündete unsere Schulleitung, eine Krankheitsvertretung zur Verfügung stellen. Diese würde für das kommende Halbjahr an eine andere Schule abgeordnet werden. Für den Fall, dass sich niemand freiwillig meldete, sei sie dazu verpflichtet, eine Kollegin zu bestimmen.

      Ängstliche Blicke wanderten ausweichend unter den langen ovalen Tisch im Lehrerzimmer, vermutlich weil der Gedanke, das sichere und bekannte Terrain der Stammschule verlassen zu müssen, nicht gerade für Jubelgeschrei im Kollegium sorgte. Während die Lippen meiner Kolleginnen ein stummes Gebet an den Himmel zu formulieren schienen, in der Hoffnung, das Los möge jemand anderen treffen, kamen mir auf einmal die Worte in den Sinn, die ich während meines Schottlandurlaubs in einem spirituellen Ratgeber gelesen hatte: „Alle deine Probleme entstehen durch ein NEIN! Alle Lösungen beginnen mit einem JA!“ Mit diesem Impuls begann ich mich plötzlich zu fragen, ob in einer üblicherweise eher als leidig empfundenen Angelegenheit wie dieser Abordnung nicht eine Chance für mich liegen könnte. Seit ich nach dem Zusammenzug mit Philippe begonnen hatte, an dieser Schule im Wohnort meiner Verwandtschaft zu unterrichten, war meine Kraft auf unerklärliche Weise zusehends geschwunden. Die Tatsache, dass ich nach wenigen Monaten bereits krankheitsbedingt für den Rest des Schuljahres ausgefallen war, warf bei Kollegen und Eltern nicht gerade ein gutes Licht auf mich, und wenn sich auch meine Rektorin bisher äußerst verständnisvoll und einfühlsam gegenüber meiner Situation gezeigt hatte, fing ich immer noch den einen oder anderen bemitleidenden Blick im Lehrerzimmer auf. Ich würde mich ganz schön ins Zeug legen müssen, um mir hier das Image der fleißigen, belastbaren und kompetenten jungen Lehrerin aufzubauen, welches ich während meiner ersten vier Berufsjahre an der ländlich gelegenen Dorfgrundschule im Kreis Schwäbisch Hall genossen hatte, sofern dies überhaupt möglich war.

      „Ich mach’s!“, hörte ich mich laut und fest sagen, noch ehe meine Ratio meine Intuition vom Gegenteil überzeugen konnte.

      Zahlreiche Dankesbekundungen drangen aus den Mündern meiner Kolleginnen an mein Ohr, aus denen offensichtliche Erleichterung sprach. Doch während diese anscheinend froh darüber waren, dass sie sich nicht aus ihrer Komfortzone herausbewegen mussten, spürte ich, wie mir bei dem Gedanken, meine Stammschule vorrübergehend zu verlassen, eine Last von den Schultern fiel, die ich erst ein knappes Jahr später verstehen sollte …

      So kam es, dass ich zunächst für sechs Wochen an einer knapp zwanzig Kilometer entfernten städtischen Grundschule Kinder in „Klasse 0“ unterrichtete. Nachdem ich meiner Stammschule den Rücken gekehrt hatte, tat ich an meinem neuen Einsatzort mein Möglichstes, jenen Kindern, die laut Homepage-Beschreibung „zwar schulpflichtig sind, aber noch nicht in allen Bereichen die Schulfähigkeit besitzen“, zu einem erfolgreichen Schulstart zu verhelfen. Neben der Vermittlung der Voraussetzungen für den Erwerb der Rechen-, Schreib- und Lesekompetenz lag ein besonderes Augenmerk der sogenannten „Grundschulförderklasse“ auf der Förderung der Fein- und Grobmotorik, der Selbstständigkeit und der emotionalen und sozialen Fähigkeiten. Nach einem Jahr, so zumindest der Plan, würden solche Kinder die Kriterien für die sogenannte „Schulreife“ erfüllen und die Grundschule besuchen können. Angesichts der mir Anvertrauten, von denen die meisten aus Familien mit Migrationshintergrund oder sozial benachteiligten Verhältnissen stammten, fragte ich mich, wer sich eigentlich anmaßte, zu entscheiden, wann ein Kind „Schulreife“ besitzen müsste. Und war die spielerische Kreativität, die ich in den Kinderaugen wahrzunehmen glaubte, nicht wichtiger als die einseitige Ausrichtung auf Lernziele, die in einem bestimmten Alter erreicht werden sollten?

      Ich räumte gerade die Stationen zum Training grundlegender Arbeitstechniken auf, mit welchen ich die Schüler auf motivierende Weise im Umgang mit Schere, Kleber und Stift fit machen wollte, und sammelte die Krepppapierkügelchen vom Teppichboden auf, die ihren Weg beim Anwenden der Knüll-Technik nicht auf das Haus der Tonpapierschnecke geschafft hatten, da erblickte ich die Rektorin der Schule im Türrahmen des mittlerweile leeren Klassenzimmers.

      „Hallo Frau Frank“, begrüßte sie mich freundlich und erkundigte sich nach meinem Befinden. Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte sie nach: „Ich habe gerade mit dem Staatlichen Schulamt telefoniert. Sie sollen Anfang März an eine neue Einsatzschule bestellt werden. In der Nachbargemeinde wird dringend eine Krankheitsvertretung in der Werkrealschule benötigt. Es handelt sich um eine jahrgangsgemischte 5. und 6. Klasse. Die Dame vom Staatlichen Schulamt bittet um Rückruf, um mit Ihnen abzuklären, ob das für Sie in Ordnung geht. Möglichst jetzt gleich.“

      Ich wusste, dass mein gegenwärtiger Einsatzort nur eine vorübergehende Station sein würde und die Abordnung, der ich freiwillig zugestimmt hatte, eine große Flexibilität von mir fordern könnte. Also bedankte mich für die Mitteilung und beobachtete im Stillen, wie sich trotz dieses Wissens mein Herzschlag beschleunigte. Die herausfordernde Zeit während meines Referendariats in einer nicht ganz pflegeleichten 5. Hauptschulklasse war mir noch sehr präsent. Meine Lehrerfahrung hatte sich überwiegend auf den Anfangsunterricht bezogen, der mir immer sehr viel Freude bereitet hatte. Ich erinnerte mich an die leuchtenden Kinderaugen, wenn ein Stempel als Belobigung für eine besonders formgetreue Buchstabenreihe seinen Weg in ein Erstklässler-Heft gefunden hatte oder die Klassenmaus auf einem Poster im Klassenzimmer am Ende einer Schulwoche bei vorbildlichem Verhalten mit einem Käse-Aufkleber hatte „gefüttert“ werden dürfen. Pubertierende Heranwachsende, so überlegte ich, würde ich nicht mit solchen Mitteln „ködern“ können, und ich fürchtete, dass sich mein nächster Einsatz als Krankheitsstellvertreterin als große Herausforderung herausstellen könnte. Vielleicht war es auch einfach die Angst vor dem Unbekannten, die mich mit Unwohlsein erfüllte, und da ich diese nun schon einmal erfolgreich überwunden hatte, entschloss ich mich, auch diese neue Herausforderung anzunehmen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.

      Augenblicke später nahm ich den Telefonhörer in die Hand und wählte die Nummer der promovierten Persönlichkeit, die mir wenig später versuchte, meine neue Aufgabe und die damit verbundene Mehrbelastung so schmackhaft wie möglich zu machen. Ich fragte mich, ob sie selbst jemals einen Fuß in ein Klassenzimmer gesetzt hatte, geschweige denn sich vorstellen konnte, mit welchen Belastungen der Lehrerberuf tatsächlich einherging. Ich formulierte eine knapp gehaltene Zusage und legte mit einem tiefen Seufzer den Hörer auf, überzeugt, dass ich nicht vor diese Prüfung gestellt wurde, um aus Angst vor dem nächsten Hindernis einen Rückzieher zu machen, sondern um in mir die Kraft zu finden, meiner Angst mit Zuversicht zu begegnen.

      ZUR RECHTEN ZEIT AM RECHTEN ORT

      In den Monaten zwischen März und Juli versuchte ich meiner neuen Aufgabe als Klassenlehrerin einer jahrgangsgemischten 5. und 6. Klasse, so gut es mir möglich war, gerecht zu werden. Die Jahrgangsmischung allerdings war, wie sich bald herausstellte, nicht auf eine pädagogische Entscheidung zurückzuführen, sondern vielmehr eine Sparmaßnahme, die ihren Ursprung in den zurückgehenden Schülerzahlen hatte, seit dem Wegfall der Grundschulempfehlung an die weiterführende Schule. Die Schulbücher wurden in den Hauptfächern genau wie zuvor jeweils für beide Klassen ausgegeben, nur dass ich nun zwei Lehrpläne gleichzeitig zu bedienen hatte, auch bei den Lernzielkontrollen.

      Dass ich ehemals die Fächer Deutsch und Englisch studiert hatte, war nun nicht mehr von Interesse. Stattdessen arbeitete ich mich fachfremd durch die