Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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      Die Klinik für Allgemeine Psychiatrie war in den vergangenen zwei Monaten zu meinem vorübergehenden Zuhause geworden. Meine Trauzeugin, in deren Wohnung ich nach der Trennung von Philippe kurzfristig untergekommen war, hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als in der Notaufnahme des Universitätsklinikums anzurufen, nachdem ich abermals ihren Küchentisch mit Tränen überflutet und weder ein noch aus gewusst hatte. Es hatte sich zwar bald herausgestellt, dass ich mit den Fragen, auf die ich verzweifelt eine Antwort suchte, am falschen Ort gelandet und das therapeutische Programm des psychiatrischen Zentrums nicht wirklich auf meine Bedürfnisse zugeschnitten war. Dennoch hatte mir die Klinik im Sinne einer Krisenintervention einen sicheren Rahmen gewährt, in dem ich nach dem inneren und äußeren Erdbeben ein wenig Halt gefunden hatte.

      „Sie haben keine Depression, Frau Frank. Sie haben nur eine Krise“, hatte mir die Oberärztin im Beisein des aus Psychologen, Therapeuten und Sozialarbeitern bestehenden Stationsteams während einer Wochenvisite erklärt. Diese Kategorisierung half mir in Anbetracht der inneren Leere und immensen Orientierungslosigkeit, die ich empfand, herzlich wenig, und ich fragte mich, ob die gescheite Schulmedizinerin auch noch einen Vorschlag parat hätte, welche Maßnahmen mir denn im Falle einer solch harmlosen Krise Linderung verschaffen könnten. Ich fühlte mich unverstanden, überfordert und auch fehl am Platz, obwohl sich diese Klinik immerhin einem „ganzheitlichen Krankheitskonzept“ verpflichtet sah, nur leider bei mir nicht. Ich wünschte mir einen Ort, an dem man meiner Situation mit Verständnis begegnete und der Ursache für meinen inneren Schmerz auch ganzheitlich auf den Grund ging. Da mich das Ärzteteam offensichtlich auch nicht darin unterstützen wollte, einen Antrag auf Aufnahme in einer psychosomatischen Klinik zu stellen, blieb mir nichts anderes übrig, als meiner sogenannten „Nähe-Distanz-Problematik“ innerhalb der hiesigen Therapieangebote zu begegnen.

      Gemäß der Empfehlung der ärztlichen Direktorin, dass nicht jedes Gefühl gleich in eine Entscheidung münden müsste, sondern erst einmal wahrgenommen und betrachtet werden könnte, versuchte ich, so gut es mir möglich war, mich von dem Druck zu befreien, in Bezug auf Philippe zu einem Entschluss zu kommen, und konzentrierte mich auf meine berufliche Wiedereingliederung, meine Wohnungssuche und auf die Themen, die mich innerhalb meiner Herkunftsfamilie beschäftigten. Mit Hilfe einer Sozialarbeiterin plante ich sukzessive meinen beruflichen Wiedereinstieg und erarbeitete ein passendes Modell für meine Rekonvaleszenz, welche mir erlauben sollte, mich später schrittweise meinem ursprünglichen Deputat wieder anzunähern. In den Pausen zwischen den Therapieangeboten durchstöberte ich am internetfähigen Stationscomputer Wohnungsinserate und vereinbarte erste Besichtigungstermine für meine therapiefreien Wochenenden.

      Nach nur drei Besichtigungen in der näheren Umgebung hatte ich eine 2,5-Zimmer-Wohnung gefunden, die mir mit einer weitläufigen Terrasse, stimmungsvollen Dachschrägen und einem gemütlichen Kamin im Wohnzimmer ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Dass sie gerade mal etwa fünfhundert Meter Luftlinie von unserer neuen Doppelhaushälfte entfernt lag, beruhigte mich vor allem vor dem Hintergrund meiner aktuellen Angst vor dem Alleinsein. Mir war wohler bei dem Gedanken, meine eigenen vier Wände zu beziehen und gleichzeitig zu wissen, dass Philippe auch in räumlicher Hinsicht nicht weit entfernt war.

      In den darauffolgenden Herbstferien, nach meiner Entlassung, bewältigte ich zusammen mit ein paar hilfsbereiten Familienmitgliedern, Freunden und Mitpatienten meinen Umzug. Philippe hatte mir zu diesem Zweck das Feld geräumt, um nicht mitansehen zu müssen, wie jene Möbelstücke, die ich erst vor gut einem Jahr in unser neu erbautes Zuhause hineingetragen hatte, samt seiner Ex-Verlobten ihn verließen. Als alles geschafft war und ich mich erschöpft zum ersten Mal in meinem neuen, noch spärlich eingerichteten Schlafzimmer in meine Bettdecke kuschelte, wurde mir bewusst, dass ich noch nie zuvor alleine gewohnt hatte. Während des Studiums war ich unmittelbar aus meinem elterlichen Zuhause aus- und mit meinem damaligen Freund zusammengezogen. Nach der Trennung hatte ich aus finanziellen Gründen einen BA-Studenten als WG-Partner in meine Wohnung aufgenommen und kurze Zeit später Philippe kennengelernt, der mich bald überredete, zu ihm zu ziehen, bis unser Haus bezugsbereit wäre. Allerdings hatte ich auch noch nie zuvor auf die Zustimmung und Anerkennung meiner Familie, Freunde und Partner verzichtet und die Freiheit genossen, die nur das Alleinsein hätte mit sich bringen können. In der Hoffnung, die Isolierung des Hauses wäre ausreichend gedämmt, um meine Klagelaute nicht bis zu den benachbarten Mietern neben und unter mir durchdringen zu lassen, weinte ich mich in den Schlaf – einsam, ängstlich und ohne die geringste Ahnung, wie ich meinen Weg durch die Dunkelheit ohne Weggefährten finden sollte.

      ERWACHEN AUF SCHOTTLANDS COUCH

      Den kommenden Jahreswechsel sollte es mich nach Schottland verschlagen. Schon lange hatte ich den Wunsch gehegt, die in den Schulbüchern abgedruckten Highlights wie Edinburgh, die Highlands und Loch Ness, welche ich als Englischlehrerin meinen Schülern vermittelte, selbst zu besuchen. Diesen Traum kombinierte ich mit meiner stetig wachsenden Neugier, Land und Leute mit Unterstützung eines virtuellen Gastfreundschaftsnetzwerks kennenzulernen. Ich fühlte mich angesprochen von der Idee, über eine Website Menschen ausfindig zu machen, die bereit wären, ihr Heim zu öffnen, indem sie Reisenden kostenlos eine Unterkunft zur Verfügung stellten und dadurch interkulturelle Begegnungen ermöglichten.

      Ich musste nur eine einzige Anfrage stellen, um die positive Antwort einer jungen Schottin zu erhalten, die wiederum in einer Dachgeschoss-WG einer jungen Familie in Edinburgh wohnte. Scarlett war etwas jünger als ich und verfügte noch über keinerlei Referenzen auf ihrem Profil, da sie offenbar wie ich das Portal zum ersten Mal nutzte. Dennoch erschien mir das freundliche Lächeln auf dem Foto vertrauenswürdig, und auch die Beschreibung auf ihrem Nutzerprofil machte einen seriösen Eindruck. Und so kam es, dass ich mich wenige Tage vor Heiligabend mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem großen Rollkoffer im Schlepptau meinem vorübergehenden Schlafplatz im Stadtteil Bruntsfield näherte.

      Scarlett entpuppte sich als eine liebenswürdige, schüchterne und eher introvertierte Person, die ihre freien Abende am liebsten in ihrem Zimmer verbrachte, um in der Bibel zu lesen. Mir kam diese Art von Abendgestaltung sehr gelegen, insbesondere weil ich seit geraumer Zeit das Lesen spiritueller Lebensratgeber mit philosophischem Hintergrund neu für mich entdeckt hatte. Auf meinem E-Book-Reader verschlang ich zu dieser Zeit bereits das zweite Buch von Robert Betz, dessen Worte auf ungewohnte Weise etwas in mir zum Schwingen brachten und mir darüber hinaus Hoffnung machten auf eine Möglichkeit, meine akuten Leidenszustände zu „transformieren“.

      Froh um etwas Ablenkung und dankbar für Scarletts Gastfreundschaft begleitete ich meine Wohngenossin am folgenden Sonntagmorgen zum Gottesdienst der Freikirche, der sie angehörte, und genoss die Offenheit der Gemeindemitglieder beim anschließenden Brunch. Wenngleich die Gespräche an der Oberfläche blieben und mir die allgemeine Freundlichkeit etwas überschwänglich vorkam, fand ich Gefallen an den Begegnungen an der Seite von Scarlett, die mich von den Turbulenzen der vergangenen Monate etwas ablenkten und mich seltsamerweise sogar etwas zur Ruhe kommen ließen.

      Am Abend des 24. Dezember liefen wir zu einer Kirche am unteren Ende der Bruntsfield Links, um am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Ich betrachtete den Schein der Kerze in meinen Händen, die als ein Zeichen des Friedens von meinem Sitznachbarn entzündet und an mich weitergegeben worden war. Ich schloss meine Augen und stellte mir für einen kurzen Moment vor, wie dieses Licht meine Freunde, Bekannten und Verwandten in Deutschland in ihrem schönsten und hellsten Glanz erstrahlen ließ. Allen voran dachte ich an Philippe, der womöglich gerade die Geschenke öffnete, die ich ihm vor meiner Abreise überreicht hatte: ein Kochbuch als Grundlage für ein Candle-Light-Dinner, eine Kerze in Form einer kleinen Badewanne für die nötige Romantik während eines gemeinsamen Bades und eine neue Glühbirne für seine Edelstein-Lampe, welche uns während der gemeinsamen Ruhezeit nach dem Bad in warmes Licht einhüllen sollte. Tränen kullerten über meine Wangen bei dem Gedanken an den Schmerz, den ich in ihm verursacht hatte, und das emotionale Chaos, das ich noch immer in mir trug. Seit der radikal ausgesprochenen Trennung nach meiner Rückkehr aus Berlin war unsere Beziehung innerhalb der letzten Monate in eine neue Form übergegangen, die von dem Wunsch getragen war, dass eine Partnerschaft mit getrennten Wohnungen eine erfolgversprechende Alternative des Zusammenlebens für