Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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Natürlich kannst du auch noch eine weitere Nacht bleiben, wenn du möchtest. Luigi.“

      Auch wenn ich Luigis Gesellschaft genossen hatte und mir meine nächtliche Angst plötzlich lächerlich vorkam, war mir doch wohler, meine Reise an diesem Vormittag fortzusetzen. Da meine körperliche Leistungsfähigkeit wegen des vielen Weins noch zu wünschen übrigließ, entschied ich mich gegen einen Ausdauerlauf über das zwanzig Hektar große Gelände und überbrückte die Zeit bis zu Luigis Eintreffen mit der Fortsetzung der Lektüre von Robert Betz.

      „Heute wäre ich zugegebenermaßen auch noch gerne etwas liegengeblieben“, gestand er mir mit müden Augen, bevor er mich in seinem silbergrauen Cabriolet zur nächsten Buslinie fuhr, die mich in das Zentrum der Stadt zurückbringen würde. Dort wartete zwischen Slateford und Balgreen bereits meine nächste Couchsurf-Begegnung auf mich: Evan.

      Da ich mich mit Evan erst für den Abend verabredet hatte, überbrückte ich den Nachmittag ohne Gesellschaft, dafür aber mit einem mittelschweren Kater in mehreren Cafés in Edinburgh und fragte mich, warum noch nie jemand auf die Geschäftsidee gekommen war, neben gewöhnlichen Cafés und Restaurants auch eine Art Wohlfühloase anzubieten, welche übermüdeten Touristen wie mir die Möglichkeit bot, sich tagsüber niederzulegen und zu entspannen. Umso glücklicher war ich, als mir auf dem Parkplatz eines nicht zu übersehenden Fastfood-Restaurants zwischen Slateford und Balgreen am frühen Abend ein dunkelhäutiger, gutaussehender junger Mann entgegenkam, der sich sogleich als Evan vorstellte und mich in sein bescheidenes Zuhause führte. Meine Freude, nach einem langen öden Tag endlich wieder ein Dach über dem Kopf zu haben, ließ mich über den drastischen Schwund an Wohnkomfort hinwegsehen, der zwischen Luigis Schlossresidenz und Evans Studentenbude zu verzeichnen war. Anstelle einer Goldarmatur zierten nun Schimmelspuren die Wanne in einem Badezimmer, das schon seit geraumer Zeit keinen Putzlappen mehr gesehen hatte. Dieses war lediglich durch eine Glastür, durch welche man ungehindert hindurchblicken konnte, vom Rest der Wohnung abgetrennt, sodass ich mich von der Hoffnung, hier mein Geschäft verrichten zu können, erst einmal verabschiedete. Der Geruch und die Spuren auf der Bettwäsche zeugten davon, dass diese bereits von anderen Besuchern vor mir benutzt worden war. Dennoch dankbar lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass ich wenigstens ein eigenes Zimmer angeboten bekam und folgte Evan, nachdem ich mein Gepäck abgestellt hatte, ins Wohnzimmer.

      Evan reichte mir ein Glas seines Lieblingsgetränks, Gin Tonic, welches er in der Küche für mich zubereitet hatte, und nahm dann neben mir auf der durchgesessenen Couch Platz. Als einer der wenigen Einwohner Haitis hatte er das große Glück, einen Studienplatz in Schottland finanziert zu bekommen, was in Anbetracht der verbreiteten Armut seines Heimatlandes eine große Ausnahme darstellte. Dass Evan aus bildungsnahen Kreisen stammen musste, verriet unsere tief greifende Konversation an diesem Abend, die ich als sehr bereichernd empfand. Was mich jedoch am Allermeisten beeindruckte, war die Weisheit, die aus dem Sechsundzwanzigjährigen sprach. Mir gefiel die positive Lebenseinstellung, die er sich gemäß seines Lebensmottos „Carpe Diem“ angeeignet hatte, und die selbst durch die einfachen, von offensichtlicher Geldknappheit geprägten Lebensumstände nicht getrübt werden konnte.

      „Eines Tages, Annie, glaube ich, wird es keine Ländergrenzen mehr zwischen den Kulturvölkern geben. Es wird keine Haitianer, Jamaikaner oder Amerikaner geben. Genauso wenig wird man zwischen Deutschen, Briten oder Schotten unterscheiden. Wir werden lediglich eine einzige Menschheit sein“, erklärte er mir mit ruhiger Stimme. Ich stutzte. „Allerdings …“, fügte er milde lächelnd hinzu, „dürfen die Erdbewohner erst noch ein wenig mehr erwachen, um dies zu begreifen, fürchte ich.“

      Ich war fasziniert von dem dunkelhäutigen jungen Mann, der die Menschen scheinbar vorurteilsfrei so liebte und akzeptierte, wie sie waren, und der mir trotz der wenigen Mittel, die sein Studentenjob abwarf, seine Junggesellenbude zur Verfügung stellte.

      Auch in dieser Nacht hatte ich Mühe, in den Schlaf zu finden. Ob dafür unsere bewegende Konversation, der modrige Duft der leicht schimmligen Wände oder auch der Sturm verantwortlich war, der durch die undichten Fenster pfiff, vermochte ich nicht zu sagen. Erst als ich meine Aufmerksamkeit auf den Besuch des National Museum of Scotland lenkte, der mir mit Evan am nächsten Tag bevorstand, gelang es mir, das Muffeln der Bettwäsche auszublenden und endlich wegzudämmern.

      Offenbar wusste Evan um jene Sehenswürdigkeiten, die man besuchen konnte, ohne Eintritt bezahlen zu müssen, und so schlenderten wir den größten Teil des Vor- und Nachmittags durch die Ausstellungsebenen des Nationalmuseums und informierten uns neben der Entwicklung des Königreichs Schottland vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit unter anderem auch über die politische und sozioökonomische Transformation Schottlands im Zeitalter der Industrialisierung.

      Nachdem wir unser Wissen über schottische Geschichte und Kultur ausgiebig aufgefrischt hatten, pilgerten wir anschließend über den Weihnachtsmarkt in den Princes Street Gradens, wo wir die gewonnenen Eindrücke neben dem charmanten Karussell mit einem Glühwein in der Hand sacken ließen. Offenbar weckte das schmackhafte Wintergetränk unsere Ausgehlaune, daher beschlossen wir, den Abend in einer der zahlreichen Bars ausklingen zu lassen. Dabei ließen wir es uns nicht nehmen, mit einem kurzen Auftritt auf der ansonsten menschenleeren Tanzfläche die Blicke der übrigen Gäste auf uns zu ziehen. Ich genoss Evans ungezwungene Gesellschaft, konnte jedoch nicht leugnen, dass ich auch froh war, die kommende Nacht wieder in Scarletts Wohngemeinschaft übernachten zu dürfen, wo ich zwar nicht ganz so königlich untergebracht war wie bei Luigi, mich jedoch, zumindest was den Sauberkeitsstandard betraf, wohler fühlte als bei Evan.

      Die Erinnerung an Scarlett, die regelmäßig um 22 Uhr ins Bett ging, ließ mich einen kurzen Blick auf die Uhr werfen und drängte mich zum Aufbruch. Wir tranken unser Bier aus und Evan begleitete mich zur Bushaltestelle Princess Street, direkt am Übergang von der Altstadt zur Neustadt. Von dort aus führte eine Linie direkt nach Bruntsfield. Wartend und schweigend standen wir da. Ich schielte mehrmals auf die Zeitanzeige meines Mobiltelefons und ließ dann wieder meine Augen nervös über die Princess Street Gardens schweifen. Statt jedoch die herrliche Aussicht auf die Burg und die Altstadt zu genießen, kreisten meine Gedanken unentwegt um den Umstand, dass ich keinen Schlüssel zu Scarletts Wohnung besaß und die Zeit bereits derart fortgeschritten war, dass ich es nie und nimmer pünktlich dorthin schaffen würde. Die Vorstellung, Scarlett letztlich wecken zu müssen, um in die Wohnung zu kommen, war mir unangenehm und ich hoffte inständig, dass sie mir meine Verspätung nicht übelnehmen würde. Als der Bus endlich eintraf, schnappte ich erleichtert mein Gepäck, bedankte mich zum Abschied bei Evan für seine Gastfreundschaft und den schönen Tag in Edinburgh und stieg ein.

      Gedankenversunken ließ ich die interkulturellen Erfahrungen der vergangenen Tage revuepassieren, durch die ich mich reich beschenkt fühlte. Kein Tourismusmanager der Welt hätte mir diese Stadt auf authentischere Weise nahebringen können als meine drei reizenden Gastgeber, die trotz aller Unterschiede ihre vorbehaltslose Weltoffenheit Fremden gegenüber gemeinsam hatten. Ich schaute leichten Herzens aus dem Busfenster auf die vorbeirauschende Landschaft, die mir überraschenderweise viel zu wenig beleuchtet vorkam. Augenblick mal, Landschaft?! Herrje, das durfte doch nicht wahr sein! Hatte ich etwa allen Ernstes meinen Ausstieg verpasst?! Erschrocken sprang ich von meinem Sitz auf und wandte mich an die ältere Dame, die mir schräg gegenübersaß.

      „Ja, da hätten Sie bereits vor zwei Stationen aussteigen müssen“, klärte sie mich freundlich auf.

      Entsetzt riss ich meinen Arm hoch und signalisierte dem Busfahrer meinen Haltewunsch. Der zeigte sich nun seinerseits überrascht und stoppte. Ich sprang gestresst auf den Gehsteig und musste mich erstmal sammeln. Als ich mich der Vollständigkeit meiner Gepäckstücke versichert hatte, begann ich mit meinem kleinen Reiserollkoffer in den Händen und der Zeit im Nacken unweigerlich zu rennen, als könnte ich dadurch meine Verspätung wieder aufholen. Schnaufend wie eine Dampfwalze kam mir plötzlich eine Passage aus dem Buch von Robert Betz in den Sinn, die ich erst kürzlich gelesen hatte. In der Tat hasste ich es, zu spät zu kommen, und die Vorstellung, Scarlett dadurch möglicherweise Unannehmlichkeiten zu bescheren, passte so gar nicht zu dem Pflichtbewusstsein, zu dem ich von meinen Eltern erzogen worden war. Doch, war ich nicht gerade im Begriff, dem bekanntesten Mantra anheimzufallen, unter dem nahezu die gesamte westliche Bevölkerung litt? Pünktlichkeit!