Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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Eiscafé in der Nähe einen Wochenendjob angenommen hatte. Alim hatte damals als Barkeeper gearbeitet und den Betrieb während der Abwesenheit der Inhaber stets zuverlässig geführt, während ich bei gutem Wetter hauptsächlich damit beschäftigt gewesen war, unzählige Eiskugeln in Waffeln zu pressen. Im Grunde genommen gab es außer Philippe niemanden sonst in meinem Leben, der mich besser kannte als er. Bei ihm hatte ich das Gefühl, so sein zu können, wie ich bin. In seiner Gegenwart konnte meine Seele aufatmen, und ich hatte das Gefühl, dass mir nichts passieren konnte.

      An diesem Morgen aber hasste ich ihn, jedenfalls für seine Großzügigkeit. Mein Brummschädel kündigte bereits an, dass die Nahrung, die ich gerade gefrühstückt hatte, Schwierigkeiten haben würde, die richtige Richtung durch den Verdauungstrakt zu nehmen. Dass die Armlehne meiner gebrauchten Ledercouch, welche an diesem Morgen als Kopfstütze fungierte, wegen der ausgeleierten Scharniere immer wieder nach unten sank, war für meinen Kreislauf nicht gerade förderlich, und so dauerte es nicht lange, bis ich ins Bad rannte, um meinen Kopf in die glücklicherweise reinlich geputzte Kloschüssel zu hängen. Da sich dieses Prozedere im Verlauf des Vormittags mehrfach wiederholte, entschied ich mich später, mir den Weg zu sparen, und nahm stattdessen mit dem Putzeimer vorlieb, den ich zwischen Couchtisch und Sofa bereitstellte.

      In meinem leidigen Zustand döste ich bis in den späten Nachmittag vor mich hin, abgesehen von den gelegentlichen unfreiwilligen Unterbrechungen, als plötzlich das Stichwort „Sabbatjahr“ wieder in mir auftauchte. In letzter Zeit waren mir immer wieder Menschen begegnet, die mir von der Möglichkeit einer zwölfmonatigen beruflichen Auszeit erzählt hatten. Der Rektorin meiner Stammschule zum Beispiel stand eine solche unmittelbar bevor. Sie hatte die letzten Jahre dafür „gespart“, indem sie bei gleichbleibendem Arbeitspensum auf einen Teil ihres Gehalts verzichtet hatte, und war sogar bereit, ihre Führungsposition dafür aufzugeben. Offenbar war dieser Luxus lediglich Lehrern im Beamtenstatus vorbehalten, nicht jedoch solchen, die als Schulleiter tätig waren.

      Von Neugier gepackt mobilisierte ich alle Kräfte meines arg dehydrierten Körpers und holte meinen Laptop aus meinem Büro und platzierte ihn, auf der Couch liegend, auf meinem Bauch.

      Schnell fand ich einen Sabbatical-Ratgeber im Internet, der innerhalb kurzer Zeit alle meine Fragen beantwortete. Da im föderalen Deutschland Bildung Ländersache wäre, war dort zu lesen, gäbe es in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Regelungen und es stünden verschiedene Modelle zur Verfügung. Es wurde empfohlen, das Sabbatjahr langfristig zu planen, um gut informiert und vorbereitet zu sein. Meine Baden-Württemberg-spezifische Recherche ergab weiter, dass Beamte dort gegenwärtig zwischen dem sogenannten Zweidrittel- und dem Siebenachtel-Modell wählen könnten und dass das Freistellungsjahr üblicherweise am Ende dieses Zeitraumes läge. Zu beantragen wäre das Sabbatjahr beim zuständigen Regierungspräsidium, las ich abschließend.

      Wenige Sekunden später befand ich mich auf der Internetseite des zuständigen Regierungspräsidiums und klickte mich über die „Abteilung 7 – Schule und Bildung“ weiter zu den sogenannten „stellenwirksamen Änderungen“, wo ich einen Antrag auf Freistellung online ausfüllen konnte. Ich hatte mich bereits für das Zweidrittel-Modell entschieden und an der entsprechenden Position ein Häkchen gesetzt, da wurde ich mit der Frage konfrontiert, mit welcher wöchentlichen Stundenzahl ich während der sogenannten „Anspar-Phase“ beabsichtigte zu arbeiten. Offenbar bestand im gleichen Zug die Möglichkeit, einen Teilzeitantrag zu stellen, wie ich verwundert und beglückt zugleich aus der erforderlichen Angabe ableitete.

      Ich hielt kurz inne und reflektierte meine vergangenen sechs Dienstjahre. Die Auswirkungen der Arbeitsbelastung bei vollem Deputat steckten noch deutlich spürbar in meinen Zellen und ich ertappte mich dabei, den Gedanken an eine Stundenreduzierung äußerst verlockend zu finden. So verlockend sogar, dass ich eine Entscheidung traf, noch ehe mein vom Restalkohol beeinflusstes Gehirn die Informationen, dass die Entscheidung nur einmal gefällt werden könnte und für die gesamte Ansparphase gälte, verarbeitet hatte. Ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte und in voller Überzeugung, dass dreiundzwanzig statt achtundzwanzig Unterrichtsstunden in der Woche mehr als ausreichend wären, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten, klickte ich auf „Antrag einreichen“.

      Als ich am nächsten Morgen mit frischem Geist und zurückkehrender Lebensenergie erwachte, jagte mir der Gedanke an meine gestrige Internetaktivität einen gewaltigen Schrecken durch die Glieder und bereitete meinem kurzlebigen morgendlichen Hochgefühl ein jähes Ende. Hatte ich allen Ernstes eingewilligt, über einen Zeitraum von drei Jahren auf ein Drittel meines Gehaltes zu verzichten, und nebenbei noch einen Antrag auf Teilzeitbeschäftigung gestellt?! Auch wenn es mit meinen Mathematikkenntnissen nicht sehr weit her war, so konnte selbst ich überschlagen, dass meine Antragstellung mit einem nicht ganz unerheblichen Einschnitt in Bezug auf meine Einkünfte einhergehen würde. In Windeseile widmete ich mich gedanklich meinen monatlichen Fixkosten: Für meine etwa sechzig Quadratmeter große Maisonette-Wohnung zahlte ich mehr als für die Doppelhaushälfte, die ich zuvor mit Philippe bewohnt hatte. Miete, Nebenkosten, Strom, Rundfunkgebühren, Festnetzanschluss, Internet …, all die Kosten, die wir zuvor geteilt hatten, musste ich nun alleine stemmen. Die Monate, an denen es mir am Ende gelang, etwas „auf die Seite zu legen“, waren selbst bei vollem Deputat äußerst rar. Wie sollte ich da zukünftig auskommen?

      Während ich über meine gegenwärtige und zukünftige finanzielle Situation sinnierte, stellte ich verblüfft fest, dass mein Kontostand während der letzten zehn Jahre meines Lebens unabhängig von meinen Einkünften immer derselbe gewesen war. Egal wie viel ich monatlich verdiente hatte und ob ich als Studentin, Lehramtsanwärterin oder Vollzeitlehrkraft tätig gewesen war: Am Ende des Monats war das Geld meist aufgebraucht. Aus meinem Dilemma gab es folglich nur einen Ausweg:

      „Ich werde meinen Antrag einfach stornieren“, sagte ich laut zu mir selbst und griff erneut zu meinem Laptop, um mich mit meinem Account auf der Seite des Regierungspräsidiums einzuloggen.

      Etwas rascher als am Vortag klickte ich mich durch das Online-Portal für Lehrer, bis ich bei den „stellenwirksamen Änderungen“ angekommen war. Doch entgegen meinem spontanen Plan wurde ich eines Besseren belehrt und musste plötzlich laut schlucken. Statt mein Stornovorhaben in die Tat umsetzen zu können, wies mich ein Informationsfenster darauf hin, dass Änderungen des Antrags nur in „gesonderten Ausnahmefällen“ möglich wären. Darunter zählten zum Beispiel Schwangerschaft und eine Reihe anderer, nicht auf mich zutreffende Bedingungen. In Schockstarre schloss ich zuerst den Bildschirm meines Laptops und dann meinen offenstehenden Mund.

      Nervös knabberte ich an meinen Fingernägeln und versuchte meine auf Angst basierenden Gedanken in positive umzuwandeln, als plötzlich ein Geistesblitz für Erleichterung sorgte: Es war Juni. Die Frist für stellenwirksame Änderungsanträge war am ersten Unterrichtstag nach den Weihnachtsferien, also Anfang Januar bereits abgelaufen. Den Antrag hatte ich demnach fünf Monate zu spät eingereicht, und das bedeutete wiederum, dass dieser im Falle einer Bewilligung nicht für das kommende, sondern erst für das nächste Schuljahr genehmigt werden würde. Somit hätte ich noch ein ganzes Schuljahr Zeit, um mir bei vollen Bezügen eine Strategie zurechtzubasteln, wie ich mit über tausend Euro weniger im Monat über die Runden kommen würde. Ich hätte Zeit, mir eine günstigere Wohnung zu suchen, eine WG zu gründen, eine Nebentätigkeit anzumelden oder was auch immer zu tun, um meine finanzielle Situation zum Guten zu wenden. Mein kurzzeitig ins Stocken geratener Atem beruhigte sich bei dieser Überlegung wieder und erlaubte mir, mich endlich jenem Vorhaben zu widmen, das an diesem Wochenende bis in den Sonntag hinein liegengeblieben war: der Unterrichtsvorbereitung für die kommende Woche. Das sich dem Ende entgegen neigende Schuljahr, so nahm ich mir vor, würde ich ohne weitere Sorgen um meine finanzielle Absicherung ausklingen lassen.

      BÜHNENREIF

      „Jetzt noch einmal Aufmerksamkeit, bitte! Leute, das ist EURE Feier!“

      Ein energisches Stampfen ertönte von der hölzernen Bühne, die anlässlich des bevorstehenden Schulfestes auf dem Schulhof aufgebaut worden war. Die Rektorin stand an einem Freitag im Juli mit der Gitarre im Arm vor meiner Horde etwas lustlos dreinschauender Fünft- und Sechstklässler, um mit ihnen im