Vom Angsthasen zum Liebesküken. Luna Lavesis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luna Lavesis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906212876
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      „Das war ganz seltsam, Frau Frank“, erklärte mir eine freundliche Stimme, nachdem ich mein Anliegen formuliert hatte. „Wir haben kurz vor den Sommerferien die Anweisung erhalten, alle noch nicht genehmigten Anträge durchzuwinken. Da war dann wohl auch ihrer dabei.“

      Das war in der Tat seltsam, denn mittlerweile war mir eingefallen, dass ich meinen Antrag nicht nur mehrere Monate zu spät eingereicht hatte, sondern dass ich auch das Dokument, welches ich nach der Einreichung im Onlineportal hätte unterschrieben der Schulleitung vorlegen sollen, nie ausgedruckt und folglich auch nicht weitergereicht hatte. Trotzdem stand meinem Sabbatjahr offenbar nichts im Wege – genauso wenig wie meiner Stundenreduzierung und der damit verbundenen Gehaltsminderung.

      In dem Versuch, mir meinen Schock über die unerwartete Entwicklung meiner beruflichen Situation nicht anmerken zu lassen, bedankte ich mich für die erhaltene Auskunft und legte perplex den Hörer nieder. Es fühlte sich ganz so an, als hätte hinter den Kulissen eine unsichtbare Macht ihre Finger im Spiel gehabt. Und obwohl ich die Sorge um meine finanzielle Situation nicht leugnen konnte, spürte ich gleichzeitig Freude in mir aufsteigen über das, was mir bevorstand.

      Wenige Tage später saß ich trotz des fortgeschrittenen Vormittags immer noch im Schlafanzug am Esstisch meiner Freundin Ebrar in Niederbayern. Ebrar war jene neue Bekanntschaft, die im vergangenen Frühjahr plötzlich über das besagte Gastfreundschaftsnetzwerk bei mir angeklopft und um eine Übernachtungsmöglichkeit gebeten hatte. Ganz in der Nähe war sie für die Teilnahme an einem Familienaufstellung-Wochenende eingetragen und hatte nach einer günstigen Unterkunft gesucht. Nach meinen bereichernden Erfahrungen in Schottland hatte nun auch ich meine Türen für Reisende öffnen und meine Couch für Übernachtungszwecke anbieten wollen und mein Profil entsprechend angepasst. Ebrar war meine erste Besucherin gewesen, und aus dieser Begegnung im Frühjahr 2016 war innerhalb kürzester Zeit eine tiefe Freundschaft erwachsen, die bei mir von dem Gefühl begleitet war, sie schon ewig zu kennen.

      Eine Vielzahl an Notizzetteln lag über den ganzen Tisch ausgebreitet, auf welchen unsere Überlegungen der letzten Stunden dokumentiert waren. Sinn und Zweck unserer Übung war, meine monatlichen Fixkosten auf mögliche Einsparungen zu überprüfen, sodass ich mit meinem neu berechneten Gehalt für die nächsten zwei Jahre über die Runden kommen würde.

      „Deine Wohnung ist einfach zu teuer. Punkt!“, meinte Ebrar streng. „Die hohe Miete ist der größte Geldfresser.“

      Mit gerunzelter Stirn schaute ich sie an. „Aber ich kann und will nicht schon wieder umziehen. Jetzt habe ich mich endlich einigermaßen eingelebt und fange gerade an, mich in meiner neuen Wohnung wohlzufühlen. Nach so kurzer Zeit wieder zu packen, fühlt sich nicht stimmig an.“ In der Tat war ich innerhalb der letzten fünf Jahre vier Mal umgezogen. Ich musste zugeben, dass Umzüge nicht gerade zu meinen liebsten Freizeitgestaltungen zählten und trotz der Unterstützung, die ich jedes Mal von Familie und Freunden erfuhr, eine recht teure Angelegenheit waren. „Das hat Kaya übrigens auch gesagt …“, fügte ich hinzu, um mein Argument meiner persönlichen Finanzberaterin gegenüber zu untermauern.

      Kaya war jene begnadete Heilpraktikerin, die ich auf die dringliche Empfehlung Cecilias hin aufgesucht hatte. „Geh doch mal zu Kaya“, hatte sie mir immer wieder ans Herz gelegt, wenn ich ihr von meinen enormen Zukunftsängsten erzählte oder ihr meine Ohnmacht gestand, die häufig dann auftauchte, wenn ich verzweifelt versuchte, meine weitestgehend frühreifen und teilweise lustlosen Fünft- und Sechstklässler für die von mir geplanten Unterrichtsinhalte zu begeistern, und dabei kläglich scheiterte. Zwar hatte es ein wenig gedauert, bis ich Cecilias Rat schlussendlich gefolgt war. Unumstritten war seit meinem ersten Besuch bei Kaya jedoch viel geschehen, und nicht nur einmal hatte sie mir dabei geholfen, alte Muster zu erkennen und „Schalter umzulegen“, was mir im Umgang mit Philippe äußerst dienlich gewesen war.

      Ebrar ließ das Wohnungsthema erst einmal beiseite und wir wandten uns dem nächsten großen Block zu: meinen Versicherungen.

      „Eine Hausratversicherung macht eigentlich nur Sinn, wenn man auch Besitz hat“, überlegte ich laut und ging in Gedanken meine Habseligkeiten durch. „Alles, was ich besitze, sind Möbel, die ich entweder geschenkt bekommen oder günstig über ebay gekauft habe. Außer meinem Computer und meinen Büromöbeln besitze ich eigentlich nichts von großem materiellen Wert.“

      „Kündigen!“, sagte Ebrar knapp.

      Ich notierte „Hausratversicherung kündigen“ auf meiner To-Do-Liste, die in der nächsten halben Stunde immer länger wurde. Es kamen weitere Versicherungen hinzu, die ich als entbehrlich erachtete, bis auf solche, deren Abschluss gesetzlich vorgeschrieben war. Neben der Kranken-, Pflege- und KFZ-Versicherung hielt ich lediglich an einer Berufsunfähigkeitsversicherung mit minimalem Beitrag fest.

      „Das müsste als Schutz reichen“, beschloss ich und beendete damit das Kapitel „Versicherung“.

      „Bei einem Stromanbieterwechsel kann man auch viel Geld sparen“, ging Ebrar zum nächsten Klebepunkt über.

      Darüber musste ich gar nicht lange nachdenken. Sogleich ergänzte ich den Hinweis auf meiner Liste, um deren Erledigung ich mich nach meiner Rückkehr aus Niederbayern kümmern wollte.

      „Mein Jahreslos bei der Soziallotterie könnte ich vorrübergehend auch kündigen“, überlegte ich weiter. „Schließlich nehme ich ja auch noch am Gewinnsparen teil. Falls das Universum also sein Füllhorn über mir ausschütten möchte, hätte es eine Gelegenheit dazu. Was meinst du?“

      „Klar“, lachte meine Freundin. „Wenn das Geld kommen soll, kommt es sowieso – egal, wie viele Lose du besitzt.“

      Ebrar lehnte sich seufzend in ihrem Stuhl zurück, nachdem sie alles noch einmal durchgerechnet hatte und holte tief Luft. „Also, Annie …, wenn du alle Fixkosten von deinem monatlichen Gehalt abziehst, bleiben dir noch etwa 300 Euro für Lebensmittel und Benzin. Das ist nicht viel, könnte aber knapp reichen. Wenn keine außerplanmäßigen Ausgaben dazukommen, kommst du etwa bei null raus. So könnte es klappen.“ Sie hielt mir ihre Handfläche entgegen, um mit dieser Geste ihre Freude für unseren Erfolg auszudrücken.

      Ich klatschte meine erhobene Hand gegen ihre, aber dann stutzte ich. „Und was ist mit den Ausgaben für Freizeit und Vergnügen?“, fragte ich enttäuscht.

      „Freizeit und Vergnügen gibt es nicht mehr“, konterte Ebrar. „Darauf kannst du dich dann in zwei Jahren wieder freuen.“

      Ich musste zugeben, dass mich bei dem Gedanken, von nun an auf Urlaube, Sauna- und Restaurantbesuche verzichten zu müssen und darüber hinaus kein finanzielles Polster für Gesundheitskosten oder Autoreparaturen zur Verfügung zu haben, ein leichtes Unwohlsein beschlich. Dennoch war ich erleichtert darüber, mit Ebrars Hilfe meinen fünften Umzug innerhalb kurzer Zeit erfolgreich abgewendet zu haben. Dankbar für die erhaltene Unterstützung und in dem Vertrauen, dass das Universum mich auch weiterhin mit allem versorgen würde, was ich zum Leben brauchte, beschloss ich, meine verbleibenden Urlaubstage einfach in der Fülle dieser Freundschaft zu genießen und meine Energie nicht weiter mit Sorgen um meine Zukunft zu verschwenden.

      WER IST HIER DER LEHRER?

      Ein klarer, hoher Ton erschallte vom Klangstab auf dem Lehrerpult, der das Stimmengewirr der nahezu dreißig Sechst- und Siebtklässler kaum zu überstimmen vermochte. Das Signal, das ursprünglich dazu eingeführt worden war, das Ende einer Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeitsphase einzuläuten und für eine lerndienliche Lautstärke im Klassenzimmer zu sorgen, war zum wiederholten Mal auf taube Ohren gestoßen und schien nur ein paar wenige Schüler zu interessieren. Mit strengem Blick zählte ich für alle sichtbar mit meinen Fingern bis zehn. Als noch immer keine Ruhe einkehrte, zeichnete ich mit einem Stück Kreide ein Minuszeichen in die linke Spalte der Belobingungstabelle an der Seitentafel. Sinn und Zweck dieses Systems war es, die Schüler durch positive und negative Verstärker dazu zu motivieren, sich an die Klassenregeln zu halten. Als Anreiz diente die Erfüllung eines Wunsches, auf den wir uns beim Erreichen einer festgelegten Anzahl von Pluszeichen im