Schneefeuer. Kyra Dittmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kyra Dittmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783649631101
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westlich – auf den sicheren Wegen. Mein einziger Vorteil bei diesem Versteckspiel war, dass sich kaum jemand so gut im Wald und an den Klippen auskannte wie ich. Meistens nutzte ich den Schutz der Dunkelheit zum Reiten, und gerade dann erwies es sich als lebensnotwendig, jeden Stolperstein in der Umgebung auch blind zu finden.

      Die Spitze der Reiter führte mein Bruder Jiri an. Er musste immer der Erste sein. Genau genommen war er mein Stiefbruder, aber das Geheimnis meiner Herkunft blieb für den Rest der Welt ebenso sicher hinter den Mauern unseres Hofes verborgen wie die Tatsache, dass ich mich kaum wie ein vollwertiges Familienmitglied fühlte.

      Die anderen vier Reiter kannte ich nur vom Sehen. Jiri wechselte seine Freunde so oft, dass ich mir unmöglich alle Namen merken konnte. Unter lautem Gejohle trieben die Jungen ihre Pferde durch den Pulverschnee, der von den Hufen aufgewirbelt durch die Luft stob und die kleine Gruppe in eine glitzernde Wolke aus Schneekristallen hüllte. Der Lärm, den sie dabei veranstalteten, war jedoch weniger beschaulich und übertönte jedes andere Geräusch der Natur. Sonst hätten sie vielleicht den Ruf der Schneeeule gehört, die am Rande des Wäldchens auf einer Tannenspitze saß und mich begrüßte.

      Ich drehte den Angebern den Rücken zu und seufzte leise. Wie gerne wäre ich ebenso unbeschwert mit ein paar Freundinnen über die Ebene galoppiert! Aber dazu würde es vermutlich niemals kommen. Ma hatte mich entgegen den strengen Traditionen zwar reiten gelehrt – sie war sogar überzeugt gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis auch Mädchen die Teilnahme am legendären Eispferde-Rennen erlaubt werden würde. Und bis zu ihrem Tod hatte ich diese Hoffnung auch voller Optimismus geteilt. Aber danach hatte sich alles geändert … Trotzdem hätte mich kein Gesetz der Welt davon abgehalten, heute, an Mas Geburtstag, zur Lichtung zu kommen.

      Ich ließ Dalibor zurück und bückte mich unter den Ästen der Nadelbäume hindurch, die ein majestätisches kleines Tor bildeten. Der schmale Trampelpfad führte mich tiefer in den Wald hinein, bis die hohen Tannen kaum noch Licht hindurchließen. Erst als ich mich meinem Ziel näherte, blitzte wieder vereinzelt Helligkeit durch das Grün. Die kleine Lichtung lag wie ein verwunschener Fleck mitten im dichten Wald. Hierhin verirrte sich nie jemand. Mein auserkorener Lieblingsplatz war ebenso einsam wie magisch, weil ich mich Ma nirgendwo so verbunden fühlte wie an diesem Ort.

      Ehrfurchtsvoll betrat ich die unberührte Schneefläche und ging hinüber zu dem alten Eschenbaum. Solange ich denken konnte, hatte er nur wenige Monate im Jahr grüne Blätter getragen. Die meiste Zeit über waren seine tief hängenden Äste kahl geblieben, hatten mir aber immer Schutz und Trost gespendet und warteten darauf, im Frühling wieder zu ergrünen. Ich bückte mich und legte den kleinen Kranz, den ich aus Federn und Tannenzapfen gebunden hatte, am Fuß der Esche ab. Ma hatte diesen Ort genauso geliebt wie ich. Wenn es ihre Entscheidung gewesen wäre, würde sie genau hier begraben liegen, und ihre letzte Ruhestätte wäre nicht nur ein unscheinbarer Stein auf dem Dorffriedhof.

      Beinahe glaubte ich, ihre Stimme zu hören, so oft hatte sie mir von dem glücklichsten Moment in ihrem Leben erzählt: An einem Frühlingsmorgen im März, vor fast siebzehn Jahren, als die Sonne durch die Zweige der alten Esche brach und die Schneeeule ihren leisen Ruf ausstieß, wurde ich genau hier geboren. Ma war sofort klar, dass ich Ašleah heißen musste – was so viel wie Eschenlichtung bedeutet. Sie glaubte, dass ich mit diesem großartigen Namen bestimmt auch Großes vollbringen würde. Vielleicht ahnte sie aber auch damals schon, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde, meinen Lebensweg zu begleiten, und sie wollte mir einfach nur Mut machen – woher auch immer sie wusste, dass ich ihn brauchen konnte. Mittlerweile dachte niemand mehr an die Eschenlichtung, wenn er meinen Namen rief. Ich hieß für jeden einfach Ash – passend zu der Asche, zu der mein Leben seit Mas Tod zerfallen war.

      Die Sonne blinzelte mir ins Gesicht und ich verdrängte die trüben Gedanken. Ich erinnerte mich an Mas lachendes Gesicht und musste selbst lächeln. So oft hatte sie mich hier vor sich aufs Pferd gehoben. Sie ritt wie der Teufel und strahlte wie ein Engel, wenn der Gegenwind ihr die Haare aus dem Gesicht blies, und es hatte sie nie jemand zurückgehalten – selbst Novak nicht.

      Die Schneeeule stieß einen gurrenden Ruf aus, der mich daran erinnerte, dass ich nicht ewig Zeit zum Träumen hatte. Ich wandte mich ab und verließ die Lichtung.

      Dalibor wartete geduldig am Waldrand auf mich. Die Reiter waren bereits hinter dem großen Schneewall verschwunden, der das Dorf gegen den Nordwind schützte, und ich würde mich beeilen müssen, wenn ich vor Jiri zu Hause auf dem Sturmhof eintreffen wollte. Vielleicht hatte ich Glück und er machte noch einen Abstecher ins Dorf.

      Ich pfiff leise durch die Zähne und Dalibor hob sofort den Kopf. Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchflutete mich. Der Hengst war mein bester Freund. Ma hatte ihn mir zu meinem fünften Geburtstag geschenkt, weil er genau in der Nacht zuvor geboren worden war. Ihre Stute Juliška hatte ihn zur Welt gebracht, und Ma vermutete, dass sie im Jahr davor mit einem wilden Eishengst zusammen gewesen war. Vielleicht war Dalibor also ebenfalls ein echtes Eispferd. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass er beim großen Rennen ganz sicher eines der schnellsten und ausdauerndsten Pferde sein würde. Doch er hatte diesen kleinen, aber entscheidenden Makel: sein schwarzes Ohr. Nur die reinweißen Eispferde durften am Rennen teilnehmen – keiner von uns beiden würde also jemals eine Zulassung zum Start erhalten.

      Mit einem Satz schwang ich mich auf Dalibors Rücken und ritt, tief über seinen Hals gebeugt, unter den Zweigen hindurch ins Freie. Die Sonne erhob sich eben hinter den Bergen und tauchte die Schneefläche in sanftes Gold. Ein kurzes Schnalzen und Dalibor verfiel in ruhigen Trab. Erst als die Ebene hinter uns lag, trieb ich ihn an. Der Sturmhof befand sich außerhalb des Ortes. Das letzte Stück zwischen den hohen Hecken, gut geschützt vor den Augen der Dorfbewohner, war ein Teil unserer heimlichen Sprintstrecke. Der Schnee hatte sich bereits festgetreten und bot einen guten Untergrund. Die kleinen Stifte unter Dalibors Hufeisen gruben sich in die Eisschicht und er fegte im Galopp bis zum Stall.

      Erhitzt sprang ich aus dem Sattel. Obwohl die Schneekristalle auf meinen Wangen brannten und meine Fingerspitzen in den dünnen Lederhandschuhen vor Kälte taub geworden waren, zählten diese Momente am Morgen zu den schönsten des Tages für mich. Und um nichts auf der Welt hätte ich Mas Reithandschuhe gegen warme Fäustlinge getauscht, wie sie die anderen Mädchen trugen.

      Ich führte Dalibor in seine Box, sattelte ihn ab und warf ihm einen Arm voll Heu hin. »Bis heute Abend«, sagte ich zu ihm, »ich habe noch jede Menge zu tun. Es wird bestimmt spät.« Ich klopfte auf sein flauschig weißes Hinterteil und verließ mit einem Lächeln im Gesicht den Stall.

      In der Waschkammer zog ich meine Stiefel aus und stellte sie zum Trocknen an den Heizkessel. Jacke und Mütze hängte ich über die Leine daneben. Als ich die Tür zur Küche öffnete, fand ich meine Familie bereits um den Frühstückstisch versammelt.

      »Ash!« Trotz des prasselnden Feuers im Kamin umfing mich schlagartig Kälte, als Novaks Stimme ertönte. »Wo warst du?«

      Innerlich wappnete ich mich gegen die nun mit Gewissheit folgenden Vorwürfe meines Stiefvaters. »Reiten«, entgegnete ich kurz. Lügen konnte ich nicht ausstehen, obwohl es mir das Leben oft einfacher gemacht hätte.

      »Sie lernt es nie.« Jiri fläzte lässig in einem Sessel am Ofen. Er hielt die aufgeschlagene Zeitung vor sich und warf mir einen herablassenden Blick zu. »In drei Wochen finden die Nominierungen für das diesjährige Eispferde-Rennen statt«, las er vor. »Nach alter Tradition erhalten nur die besten Reiter des Landes eine Lizenz zum Start. Bevorzugt werden dabei Empfehlungen namhafter Züchter und Familien.«

      Er grinste selbstsicher. Novak war Richter im Dorf, ebenso wie schon sein Vater und Großvater es gewesen waren. Der Name Valenta besaß daher eine fast ebenso lange Tradition wie das legendäre Rennen. Dass auch ich diesen Nachnamen trug, zählte nicht. Ich war nur auf dem Papier eine Valenta.

      »Der Prinzenball zu Ehren der jungen Männer«, las Jiri weiter, wobei er das letzte Wort besonders betonte, »die das siebzehnte Lebensjahr vollendet haben, findet wie immer im großen Saal des Rathauses statt …«

      »Oh, ich bin schon so aufgeregt«, fiel ihm Julie ins Wort. Sie warf ihr hellblondes Haar schwungvoll zurück und klatschte