7.
Durch das Gewirr von Trümmern und Splittern hasteten Mac Pellew und der Kutscher mit einer Trage heran. Der schwerverwundete Sam Roskill mußte so behutsam wie möglich in die Krankenkammer gebracht werden.
Mit einem raschen Blick nach achteraus vergewisserte sich Ed Carberry, daß vorläufig keine Gefahr mehr drohte. Die beiden spanischen Galeonen waren noch nicht auf Gegenkurs gegangen. Keine Frage, daß auch die Dons mit ihren Schäden alle Hände voll zu tun hatten.
Hilfreiche Hände waren für die beiden Feldschere der „Isabella“ zur Stelle, als sie Sam Roskill auf die Trage betteten. Ed Carberry packte selbst mit zu, und diesmal ließ er keinen seiner derben Sprüche hören. Nichts dergleichen war jetzt angebracht. Er brauchte nur in die pulvergeschwärzten und blutverschmierten Gesichter zu blicken, um ein Würgen in der Kehle zu spüren. Diesmal hatte es sie teuflisch erwischt.
Mac Pellew und der Kutscher entfernten sich mit der Trage. Dan O’Flynn eilte an ihnen vorbei in Richtung Achterdeck. Sein Hemd war zerfetzt, blutige Striemen verliefen über seinen rechten Arm. Die meisten, so stellte Ed Carberry fest, hatten nur Kratzer empfangen. Sie würden verarztet werden, sobald Sam Roskill in der Krankenkammer versorgt worden war. Luke Morgan rappelte sich vor den Beibooten auf. Fluchend zog er einen fingerlangen Holzsplitter aus seiner rechten Schulter und schleuderte ihn von sich. Al Conroy und die Mehrzahl der Geschützmannschaften, schwarzgesichtig wie verbissen arbeitende Teufel, waren bereits mit dem Nachladen beschäftigt.
Ein durchdringendes Knarren ließ den Profos zusammenzucken, als er sich aufrichtete. Er warf den Kopf in den Nacken – und erstarrte.
„Die Großrah!“ brüllte er im nächsten Atemzug. „Weg vom Großmast! Deckung!“
Das Knarren verstärkte sich, noch während er die letzten Silben ausstieß. Die Männer spritzten auseinander und flohen in Richtung Back und Achterdeck. Sie brauchten nicht hinzusehen, um die Gefahr zu erkennen, die Ed Carberry bemerkt hatte.
Die Großrah hing nur noch am Backbordtoppnanten. Eine Kettenkugel der Spanier mußte sowohl das Rack als auch den Toppnanten der Großrah zerfetzt haben. Buchstäblich im letzten Moment schafften es die Arwenacks, sich in Sicherheit zu bringen. Mit Getöse rauschte die Großrah samt Segel und Takelwerk abwärts, krachte auf die Kuhl und sorgte für weiteres Kleinholz.
Sofort rappelten sich die Männer auf und begannen, das Großsegel zu bergen, das sich in wirrem Faltenwurf über die Jollen und die vorderen Grätingsluken gelegt hatte. Die Großrah selbst war durch den Aufprall in zwei Teile gebrochen. Das kürzere Ende hing an Backbord nach außenbords und wurde nur noch vom Segel gehalten.
Bob Grey, Matt Davies und weitere Männer, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, zogen ihre Entersäbel und hieben auf Anschlagbändsel und Segeltuch ein, um den zersplitterten Teil der Rah abgehen zu lassen.
Dan O’Flynn tauchte an der Querbalustrade des Achterdecks auf.
„Feldscher!“ rief er mit schneidender Stimme. „Feldscher zum Achterdeck!“
Ed Carberry fuhr auf der Kuhl herum.
„Sind beide beschäftigt!“ brüllte er zurück. „Hast du nicht gesehen, daß es Sam Roskill fast zerrissen hat? Was, zum Teufel, ist los?“
„Ben Brighton“, erwiderte Dan atemlos, „er ist ohne Bewußtsein. Irgendwas hat ihn am Kopf erwischt.“
Ed Carberry zögerte nicht lange. Er rannte los und winkte Smoky und Stenmark mit sich, die in seiner Nähe mit einem Geschütz beschäftigt waren. Behutsam hoben sie den bewußtlosen Ersten Offizier auf, bugsierten ihn über den Backbordniedergang zur Kuhl und trugen ihn in Richtung Krankenkammer.
Dan O’Flynn wandte sich zu Pete Ballie um. Die zerfetzten Reste des Besansegels flatterten und klatschten im Wind.
„Wo steckt Hasard, verdammt noch mal?“ Der kratzende Klang der Besorgnis war in Dans Stimme nicht mehr zu überhören.
Pete zog die Schultern hoch. Seine großen Fäuste hielten das Ruder dennoch eisern fest.
„Bei dem Teufelstanz habe ich nicht viel mitgekriegt. Kann sein, daß er mit Ben zusammen zur Kuhl hinunterwollte. Dabei hat Ben dann einen Brocken an den Kopf gekriegt.“
Einen Augenblick starrte Dan den Rudergänger durchdringend an. Dans Blick wanderte zum zerfetzten Besan. Mit einem wilden Ruck wirbelte er herum. Zwei lange Sätze genügten, und er war an der Balustrade. Seine Stimme schmetterte über die Decks.
„Hasard!“
Schlagartig wurde es still. Die Männer standen starr, blickten zu Dan O’Flynn auf und wollten nicht begreifen, was sich als furchtbare Ahnung in ihr Bewußtsein drängte.
Nichts rührte sich. Keine Antwort. Hölle und Teufel, der Seewolf verkroch sich nicht mitten im Gefecht in einem der Unterdecksräume!
„Sucht das Schiff ab!“ brüllte Dan. Während die Männer in Bewegung gerieten, warf er sich herum und hastete zur Heckbalustrade. Das breite Band der Hecksee schimmerte silbrig im Licht der sinkenden Sonne.
Erst jetzt wurde es Dan bewußt, daß die Dämmerung unmittelbar bevorstand. Und es zeigte sich auch, daß die Hecksee keineswegs mehr schnurgerade verlief, wie man es von einem Rudergänger wie Pete Ballie gewohnt war. Das Fehlen von Besan und Großsegel machte sich bereits bemerkbar. Die „Isabella“ lief geringere Fahrt und driftete überdies nach Lee ab. Dan schüttelte den Kopf, um die nebensächlichen Gedanken loszuwerden. Er schalt sich einen Narren, daß sich diese Einzelheiten in seinem Kopf ausbreiteten, da es doch um Hasard gehen mußte. Nur um Hasard und um nichts anderes.
Aber die See achteraus war wie leergefegt.
Wie aus einer Laune heraus gab es nicht einmal Trümmerteile, die auf der Wasseroberfläche trieben.
Minutenlang spähte Dan nach achteraus. Dann wandte er sich ab. Die Resignation erfüllte sein Inneres wie mit einer tonnenschweren Last. Er kehrte zur vorderen Balustrade zurück, sah die Männer mit hängenden Schultern und wußte Bescheid. Noch einmal wandte er sich zu Pete Ballie um.
„Was war mit dem Besan, Pete?“
„Die Rute ist abgegangen wie ein Geschoß“, erwiderte der Rudergänger, „nach Backbord, wenn ich’s richtig mitgekriegt habe.“
Dan nickte nur, langsam und wie in grenzenloser Müdigkeit.
„Keine Spur von ihm!“ rief Ed Carberry, und seine Stimme klang wie die eines Fremden. Keiner hatte ihn je zuvor so erlebt, so niedergeschlagen und so fassungslos.
„Dann wird weitergesucht!“ brüllte Dan beinahe verzweifelt. „Wir brauchen Gewißheit, verdammt noch mal!“
Keiner der Männer widersprach.
Dann, mit der hereinbrechenden Dämmerung, gab es eben jene Gewißheit, die jeden einzelnen von ihnen wie ein Stich tief ins Innere traf.
Der Seewolf befand sich nicht mehr an Bord der „Isabella“.
Die „Isabella“ segelte ohne Philip Hasard Killigrew.
Ben Brighton war noch immer ohne Bewußtsein.
So ergab es sich als Selbstverständlichkeit, daß Dan O’Flynn das Kommando übernahm. Viel Zeit zum Nachdenken gab es ohnehin nicht. Denn mit der heraufziehenden Dämmerung näherte sich der angeschlagenen „Isabella“ neue Gefahr.
Die beiden spanischen Galeonen, selbst beträchtlich lädiert, schoben sich von Steuerbord achteraus heran. Sie wollten es jetzt wissen und glaubten an ein leichtes Spiel.
Aber darin sollten sie sich täuschen. Die ohnmächtige Wut entflammte in den Arwenacks wie ein einziger, vielstimmiger Aufschrei. Und der Anblick der Dons heizte ihren Zorn zum berserkerhaften