Zwei Stunden nach der Begegnung mit den Fischerbooten brüllte Dan O’Flynn erneut sein „Feind in Sicht!“
Diesmal handelte es sich nicht um eine Falschmeldung. Für Dan war es an der Zeit, seinen Platz im Vormars zu verlassen und sich auf das Achterdeck zu begeben. An seiner Stelle enterte Batuti auf, während sich Big Old Shane mit seinem Bogen in den Großmars begab.
6.
In der Sonne des späten Nachmittags zeichneten die Spektive ein klares Bild.
Der spanische Kampfverband segelte in jener Marschformation, die bereits Don Juan de Alcazar beschrieben hatte – an der Spitze das Flaggschiff „San José“, ihm folgend jeweils vier Kriegsschiffe beiderseits in Kiellinie. Lediglich die Schaluppen waren nicht zu sehen. Aber das mochte daran liegen, daß sie ihre Aufklärer-Funktion wahrnahmen.
An Bord der „Isabella“ und der „Le Vengeur“ harrten die Männer in gebannter Ruhe aus. Auch ihre persönliche Bewaffnung war inzwischen vollständig. Jeder, der sich auf Gefechtsposten befand, trug neben seinem Entersäbel eine sorgfältig geladene Pistole. Überdies standen geladene Musketen in ausreichender Zahl bereit.
Edwin Carberry hatte ein wachsames Auge darauf geworfen, daß das „Viehzeug“ in gesonderten Unterdecksräumen sicher unter Verschluß war. Arwenack, der Schimpanse, und Sir John, der Papagei, hatten in Gefechtssituationen an Deck nichts zu suchen.
Der Seewolf hatte seinen sechsschüssigen Radschloß-Drehling bereit, und Ben Brighton war mit einer doppelläufigen Pistole ausgerüstet. Wie auch Jean Ribault auf dem Achterdeck der an Steuerbord segelnden „Le Vengeur“ setzten Hasard und Ben die Spektive keinen Moment ab.
„Da tut sich etwas“, sagte der Erste Offizier der „Isabella“ unvermittelt. Ein kaum merklicher rauher Klang lag in seiner Stimme – das einzige Anzeichen, das seine innere Anspannung verriet.
Hasard hatte es im selben Augenblick bemerkt. Er antwortete nicht sofort. Seine Lippen bildeten einen Strich.
Vier Schiffe scherten aus dem spanischen Verband aus.
Also hatten sie die Verfolger gesichtet.
Drei Galeonen und eine Karavelle waren es, die auf Gegenkurs gingen. Währenddessen segelte der restliche Verband auf seinem ursprünglichen Kurs weiter.
„Klug gehandelt“, sagte der Seewolf, ohne das Spektiv sinken zu lassen. „Die sollen uns aufhalten.“
„Und die anderen halten weiter Kurs auf die Schlangen-Insel“, entgegnete Ben Brighton grimmig.
„Hättest du als Verbandsführer nicht genauso gehandelt? Ich hätte jedenfalls nicht anders entschieden. Für die Spanier ist es die zwingend logische Lösung.“
Ben konnte nicht widersprechen.
Hasard traf seinerseits die Entscheidung, die als Gegenmaßnahme nicht minder logisch war. Er trat an die Steuerbordverschanzung des Achterdecks und verständigte sich mit Jean Ribault.
„Jean, wir werden nach Norden und Süden ausweichen! Dadurch umgehen wir die vier Gegner, lassen sie leerlaufen und stoßen wieder auf den Restverband zu.“
„Und schlagen zu, daß ihnen die Kürbishosen flattern!“ brüllte der Franzose zurück. Mit einer Handbewegung zeigte er klar. Es gab keine Worte mehr zu verlieren.
Hasard wandte sich dem Gefechtsrudergänger zu. Der Nordost erwies sich als ein stetiger Geselle, denn er wehte mit unverminderter Kraft.
„Pete, du hast es gehört. Geh so hoch wie möglich an den Wind.“
„Aye, aye, Sir!“ rief Pete Ballie und legte Ruder. Dabei wandte er nur kurz den Kopf. Seine Augen leuchteten voller Tatendrang.
Ben Brighton befand sich bereits an der vorderen Querbalustrade des Achterdecks. Seine Befehlsstimme dröhnte über die Kuhl, und die Männer nahmen in Windeseile ihre Arbeit an Schoten und Brassen auf. Hart nach Backbord krängend, legte sich die „Isabella“ auf den Beim-Wind-Kurs.
Unterdessen war die „Le Vengeur“ aus der Leeposition heraus nach Süden abgefallen. Sehr rasch gewannen beide Schiffe voneinander Distanz.
Doch die Spanier reagierten prompter, als der Seewolf erwartet hatte. Er mußte erkennen, daß er es mit Gegnern zu tun hatte, die keineswegs auf eine starre Taktik festgelegt waren. Der Verbandsführer war offenbar ein Mann, der seine Kapitäne zur Beweglichkeit des Denkens veranlaßte und sie nicht als gut funktionierende Befehlsempfänger betrachtete.
Die Gegenmaßnahmen waren frappierend einfach.
Zwei Kriegsgaleonen, in Kiellinie segelnd, luvten an. Ihr eindeutiges Ziel war es, die „Isabella“ zu packen, bevor sie nach Norden entwischen konnte.
Inzwischen fielen die andere Galeone und die Karavelle ab, und naturgemäß würde es ihnen bei rauhem Wind sehr rasch gelingen, den Kurs der „Le Vengeur“ zu kreuzen.
„Verdammter Mist“, sagte Ben Brighton gepreßt.
Gemeinsam mit Hasard beobachtete er das Geschehen, in das Jean Ribault und seine Männer verwickelt wurden. Die beiden Verfolgergaleonen, die die „Isabella“ zu erwischen versuchten, waren noch nicht nahe genug heran, um gefährlich zu werden.
„Aus dem Leerlaufenlassen wird also nichts“, sagte der Seewolf. „Wie es aussieht, werden wir uns mit den Kerlen erst herumschlagen müssen.“
In der Tat dachten die Dons nicht daran, sich auf den Leim führen zu lassen.
Minuten später zeigte Jean Ribault jedoch, wie geschickt er und seine Männer es verstanden, die Vorzüge der „Le Vengeur“ auszunutzen. Urplötzlich luvte der schnittige Dreimaster hoch und entwischte dem Kollisionskurs der beiden Gegner. Gleich darauf brach er hinter ihnen auf den alten Kurs durch.
Mit einem donnernden „Ar – we – nack“ brüllten die Männer auf der „Isabella“ ihren Beifall.
Zwar drehten die beiden Spanier mit einer eilends eingeleiteten Halse nach und nahmen die Verfolgung auf, doch die „Le Vengeur“ hatte bereits einen beträchtlichen Vorsprung herausgeschunden. Vorerst gerieten die Dons ins Hintertreffen.
Hasard und Ben Brighton konzentrierten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die eigenen Verfolger. Außer den Schwanz einzuziehen und nach Westen davonzulaufen, gab es nur eine einzige Möglichkeit, ihnen zu entwischen und dem Verband nachzusetzen.
Ohne lange zu fackeln, ließ der Seewolf die „Isabella“ kurzerhand nach Osten abfallen. Seine Hoffnung, auf diese Weise am Gegner vorbeistoßen zu können, schien berechtigt.
Es mußte sich wohl um einen Zufall handeln, daß die beiden Galeonen fast zum selben Zeitpunkt ebenfalls abfielen.
Ben Brighton reagierte mit der gewohnten Schnelligkeit.
„Steuerbordgeschütze klar zum Gefecht!“
Al Conroy stand bereits auf dem Sprung, um das Ausrichten der Siebzehnpfünder und Fünfundzwanzigpfünder zu überwachen. Die mächtigen Holzlafetten rumpelten unter der Tonnenlast, als die Geschützrohre durch die bereits geöffneten Stückpforten ausgerannt wurden.
Hasard veranlaßte Pete Ballie, den Kurs zu halten. Schon jetzt ließ sich abschätzen, daß sie die beiden spanischen Galeonen auf einer Distanz von etwa hundert Yards passieren würden. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte der Seewolf, daß auch Al Conroy eben dies sehr genau taxierte.
Bei halbem Wind segelnd, hatte die „Isabella“ eine nur leichte Schräglage nach Steuerbord. Für den Stückmeister erwies sich auch die Stetigkeit von Wind und Wellengang als ein positiver Faktor beim Richten der Geschütze.
Durch die Spektive beobachteten der Seewolf und sein Erster Offizier die heranrauschenden Spanier. Nach wie vor segelten beide Galeonen in Kiellinie. Zweifellos bauten sie darauf, daß bereits