Plötzlich hegte er wieder Zuversicht. Was hatte er schon verloren? Das Gold. Aber er hatte sein Leben, war nicht verletzt und konnte neue Unternehmungen starten. Warum eigentlich nicht? Es gab noch eine Menge Gold zu holen, beispielsweise das, was sich an Bord der „Lady Anne“ befand. Oder den ganzen Schatz des Seewolfes. Der Bastard mußte gewaltige Reichtümer in seinem Schlupfwinkel gehortet haben.
Daran dachte Stewart, und die Vorstellung von Macht und Reichtum war ein antreibendes, aufreizendes Element. Er erhob sich, atmete noch ein paarmal tief durch und brach zur Bucht auf. Er mußte durch das Dickicht und den Dschungel, doch er hatte immer noch sein Messer und bahnte sich damit einen Weg.
Die Angst, die ihn gepackt hatte, war wie weggewischt. Mit einemmal lächelte er kalt. Tottenham würde staunen, wenn er ihn sah. Die Auskunft über den Zweidecker der Chinesenhure und die Galeone des Seewolfs würde ihn anstacheln. Schließlich war es ja sein Auftrag, dieses Piratenpack zu stellen und zu vernichten.
Im Grunde genommen, so resümierte Charles Stewart, sah es doch nicht so schlecht aus. Er war kerngesund und schon fast wieder voll bei Kräften. Ein starker Mann konnte noch viel beginnen. Warum verzweifeln? Er war in der Karibik, und diese konnte sich immer noch in eine Goldgrube für ihn verwandeln, wenn er es nur geschickt genug anpackte.
Allmählich wurde es wärmer. Der Dschungel war voller Geräusche, Vögel kreischten und zirpten, kleine Affen keckerten. Mückenschwärme und anderes Ungeziefer umtanzten Stewart, dorniges Gerank streifte seine Arme und Beine und verursachte Kratzer. Einmal sah er den Kopf einer Schlange, der pendelnd von einem Mangrovenast herunterhing. Mit Sicherheit handelte es sich um ein giftiges Reptil.
Doch all das vermochte Stewart nicht aufzuhalten. Er schlug sich durch das Zweig- und Blattwerk mit dem scharfen Messer und näherte sich unbeirrt dem Lager an der Nordbucht der Insel. Keinen Moment zweifelte er daran, daß er sich in der Richtung nicht getäuscht hatte. Er verfügte über einen ausgezeichneten Orientierungssinn und kannte sich auch schon einigermaßen gut auf dem Eiland aus. Bald sollte er die Bestätigung erhalten, daß er sich nicht geirrt hatte.
Er geriet auf einen winzigen Kahlschlag, auf dem er die Spuren von Behausungen zu entdecken glaubte. Abgerissene Hütten? Hatten hier Eingeborene gelebt? Er verharrte kurz und untersuchte den Untergrund. Vielleicht täuschte er sich auch. Die pflanzliche Verwesung schritt im Urwald schnell voran, es ließ sich nicht mehr genau erkennen, ob die Überreste dieser Matten und Schilfgeflechte einmal zu primitiven Hüttendächern gehört hatten.
In der Nähe gurgelte Wasser. Er stieß auf einen Flußlauf. Hatten hier Boote gelegen? Vielleicht. Möglich war es. Aber was kümmerte es ihn? Er mußte das Lager an der Bucht erreichen, und zwar so schnell wie möglich. Das war sein Ziel.
Stewart konnte nicht ahnen, daß an diesem Platz, den er soeben zufällig entdeckt hatte, zwei kleine Familien gelebt hatten: der Engländer Speckled Red und der Korse Louis Lamare mit ihren Indianerfrauen Tampa und Onda sowie drei kleinen Kindern. Diese Menschen, die ausgesprochen friedlich lebten und jeder Auseinandersetzung aus dem Weg gingen, hatten von Anfang an alles verfolgt, was sich auf und vor der Insel zugetragen hatte.
Sie waren stumme Zeugen gewesen, als Siri-Tong nackt in dem Lagunensee gebadet hatte, um die Kerle der „Lady Anne“ anzulocken. Alles hatten sie beobachtet: Wie Sir John und seine Spießgesellen überrumpelt und niedergeschlagen worden waren, wie man sie am Strand an die Stämme der Mangroven gebunden hatte – alles, bis hin zum Auftauchen der „Orion“ und der „Dragon“ und den damit verbundenen Komplikationen.
Dann aber hatten sie sich heimlich im Schutz der Nacht von der Insel zurückgezogen, weil sie richtig vermuteten, daß die Männer früher oder später landen und Lager errichten würden.
In einem solchen Fall war es gefährlich für Frauen – besonders für Eingeborene –, sich im Urwald versteckt zu halten. Irgendwie entdeckte man sie doch. Und hatten nicht schon die Kerle des John Killigrew vorgehabt, Frauenzimmer aufzuspüren und zu vergewaltigen? Das war ihre ursprüngliche Absicht gewesen, als sie die Grand Cays angesteuert hatten.
Somit waren Red und Lamare nur gut beraten, wenn sie sich wie jetzt auf einer Nachbarinsel verborgen hielten. Noch zwei Abstecher hatten sie in der Dunkelheit unternommen, um auch die letzte Phase, die Auseinandersetzung zwischen der „Orion“ und der „Dragon“ und das Eingreifen des Zweideckers der Roten Korsarin, mitzuerleben. Doch das wagten sie in der Zwischenzeit nicht mehr. Und daran taten sie gut. Sich mutwillig in Gefahr zu begeben, war schädlich für die Gesundheit.
So hatte sich Sir Henry, Duke of Battingham, auszudrücken geruht, doch inzwischen hatte auch er gelernt, wie fatal es sein konnte, riskante Unternehmen zu finanzieren. Die große „Expedition“, die Suche nach dem „Bastard“, dem Seewolf, war gescheitert. Und er, Sir Henry, hatte die Ehre, als Gefangener an Bord der „Caribian Queen“ zu hocken und einen Kerl wie Barba ertragen zu müssen.
Stewart schob sich weiter durch das Dickicht und vernahm jetzt die Stimmen von Männern. Weit war die Bucht nicht mehr entfernt, es konnte sich höchstens noch um ein paar hundert Yards handeln, dann hatte er sie erreicht.
Doch es wartete eine weitere kalte Dusche auf ihn, diesmal zwar im übertragenen Sinne, aber nicht weniger schockierend als das „Ausbooten“, das der Hund O’Leary herbeigeführt hatte. Es raschelte im Gestrüpp vor Stewart, und plötzlich schob sich der Lauf einer Muskete zwischen den lappigen, feuchten Blättern hervor. Die Mündung zielte genau auf seine Brust. Er blieb stehen und griff in einer instinktiven Geste nach dem Messer, ließ die Hand dann aber doch wieder sinken.
„Ich bin’s“, sagte er und wunderte sich darüber, wie heiser seine Stimme klang. „Kapitän Stewart.“
„Von mir aus auch der Philipp von Spanien“, sagte der Mann mit der Muskete. Es war Ross, ein Mann der „Orion“, der zu den besten Kameraden des Decksältesten Francis Bush gehörte. „Was, zum Teufel, wollen Sie hier noch?“
„Mit Sir Edward Tottenham sprechen.“
„Soll das ein Witz sein?“
„Ich habe nicht den geringsten Anlaß, irgendwelche Witze zu reißen“, sagte Stewart wütend. „Und nehmen Sie die Muskete herunter, verdammt noch mal.“
„Sir“, sagte Ross kalt. „Ich bin hier als Wachtposten unterwegs und habe den strikten Befehl, jeden Eindringling oder Unbefugten festzunehmen und Vorkommnisse, gleich, welcher Art, unverzüglich zu melden. Sie haben Glück, daß die anderen Patrouillenposten Sie noch nicht entdeckt haben.“
„Ich bin weder ein Unbefugter noch ein Eindringling“, sagte Stewart gepreßt.
„Das zu klären, ist nicht meine Aufgabe“, sagte Ross und trat ganz aus dem Gesträuch hervor. „Wenn ich jetzt bitten darf? Gehen Sie brav vor mir her. Geben Sie mir Ihr Messer. Machen Sie keine Dummheiten. Ich habe die Order, abzudrücken, und das tue ich, wenn Sie Tricks versuchen.“
Stewart hatte keine andere Wahl. Er mußte sein Messer abgeben. Ross untersuchte ihn kurz, dann dirigierte er ihn vor sich her durch das Unterholz. Stewart hob zwar nicht die Hände, aber er fühlte sich bereits als Gefangener. Verbissen kämpfte er dagegen an. Er dachte an sein Ziel. Es war jetzt seine Aufgabe, Tottenham zu überzeugen. Dazu bedurfte es eines gewissen diplomatischen Geschicks – an dem es aber ihm, Stewart, so glaubte er, nicht mangelte.
Wieder waren Geräusche im Dickicht, eine Stimme fragte: „Wer da?“
„Hier Ross“, erwiderte der Decksmann der „Orion“. „Ich habe Stewart bei mir.“
„Wen? Mann, mich kannst du doch nicht auf den Arm nehmen!“
„Er ist aber wirklich hier“, sagte Ross und grinste hart. „Ich habe es erst auch nicht glauben wollen.“
Der zweite Posten gesellte sich zu ihnen, er gehörte ebenfalls zu der Crew der in der Bucht gesunkenen „Orion“. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte er Stewart.
„Dazu gehört Dreistigkeit“, sagte er. „Und wo sind die anderen?“
Stewart