„Unklar ist aber, was ihr Angriff bezwecken sollte“, sagte Ben. „Wollten sie nun den Alten oder Sir Henry befreien?“
Diese Frage hing unbeantwortet in der Luft. Sir John Killigrew befand sich als Gefangener in der Vorpiek der „Isabella“, Sir Henry, der Duke of Battingham, war an Bord der „Caribian Queen“, wo er vor Angst fast verging und ihm die Knie schlotterten, wenn er Barba nur tief durchatmen hörte.
Mit einem Trick hatte Siri-Tong selbst die wüste Crew der „Lady Anne“ angelockt, indem sie sich als „Sirene“ in dem Lagunensee der Grand-Cay-Insel den Kerlen dargeboten hatte. So waren die Halunken in die Falle gegangen, und die Seewölfe und die Männer der „Caribian Queen“ hatten sie „vereinnahmt“. Dann aber hatte Hasard die zwar verständliche, aber im Endeffekt doch fatale Idee gehabt, sich aus Gründen der Ehre mit Sir Andrew Clifford, Earl of Cumberland, und Sir John Killigrew zu duellieren – am Strand der Inselbucht.
Clifford hatte genau solche Angst gehabt wie jetzt Sir Henry. Schließlich gehörten sie ja auch beide der blaublütigen Clique an, die das Unternehmen in die Karibik organisiert hatte. Clifford war ein Menschenschinder, aber mit dem eigenen drohenden Tod vor Augen hatte ihn die Panik gepackt. Zuerst hatte er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, zu kämpfen. Dann hatte er sich – feige und hinterhältig – nach wenigen Schritten viel zu früh umgedreht und die ihm ausgehändigte Pistole auf den Rücken des Seewolfes abgefeuert.
Batuti hatte Cliffords Leben mit einem Pfeil ein Ende gesetzt. Aber damit war die Sache längst nicht bereinigt. Hasards Leben stand auf der Kippe. Und sie hatten immer noch Sir John Killigrew am Hals – und den kreischenden, zitternden Sir Henry, den Barba nach dem Gefecht der „Caribian Queen“ gegen die „Orion“ und die „Dragon“ von der gesunkenen „Dragon“ durch einen simplen Trick abgeborgen hatte. Wie sich nun herausgestellt hatte, waren auch die Überlebenden der Schiffe immer noch eine große Gefahr. Besonders Stewart und O’Leary konnten noch viel Unheil anrichten.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete die Rote Korsarin auf Bens Frage. „Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit. Vielleicht haben die Kerle den Wahnsinnsplan verfolgt, Hasard zur Strecke zu bringen.“
„Klar, kann schon sein“, sagte Dan. „Sie wollten also entern und wahrscheinlich die Kapitänskammer der ‚Isa‘ stürmen. Verrückt, ohne Schußwaffen oder entsprechende Munition.“
„Das finde ich auch“, stimmte Carberry ihm zu.
„Nicht so laut, Ed“, sagte Ben.
„Ich flüstere ja auch nur“, brummte der Profos. „Ich möchte wissen, warum dieser idiotische Angriff nur von einer Jolle unternommen wurde, noch dazu nur von den Kerlen der ‚Lady Anne‘.“
„Wegen der Aufsplitterung in Gruppen“, sagte Siri-Tong. „Die Schiffbrüchigen haben sich gegenseitig in die Wolle gekriegt.“
„Das ist auch nur eine Vermutung“, sagte Carberry. „Vielleicht halten sich in der Umgebung noch mehr Jollen auf. Das meine ich.“
„Sie umzingeln uns und kochen uns langsam weich“, sagte Gary Andrews. „Sie landen von der anderen Seite auf der Insel und pirschen sich heimlich an. Unsere Posten müssen auf der Hut sein.“
„Das sind sie auch“, sagte die Rote Korsarin. „Und noch etwas. Glaubt ihr vielleicht, mich können diese Kerle einschüchtern?“
„Wir sind ganz schön dumm, wenn wir uns von den paar Lauseaffen beeindrucken lassen“, sagte der Profos. „Hölle, denen haue ich doch notfalls ganz allein die Affenärsche weich. Was ist eigentlich los mit uns?“
Sie blickten sich untereinander an. Ja – Hasards Zustand und die ganz prekäre Lage setzten ihnen erheblich zu. Sie waren nervös und ziemlich gereizt. Wie lange sie diese Situation, die keine Veränderung brachte und sich über einen großen Zeitraum ausdehnen konnte, noch hinnehmen würden, konnte keiner von ihnen sagen.
„Die Sache ist so, daß Hasard auf keinen Fall durch Lärm gestört werden darf“, sagte Ben. „Es darf keine weiteren Angriffe geben. Nur wissen unsere Gegner jetzt, wo wir ankern. Das ist schlecht für uns.“
„Sie müssen die ‚Caribian Queen‘ gestern gesehen haben“, sagte Siri-Tong. „Vielleicht haben sie uns von irgendeiner Nachbarinsel aus beobachtet. Aber das konnten wir nicht ahnen.“
„Es war reiner Zufall“, sagte Carberry.
„Und dir macht keiner einen Vorwurf“, fügte Ben zu Siri-Tong gewandt hinzu. „Es geht jetzt darum, daß wir uns gegen weitere Überfälle schützen müssen. Es darf kein einziger Schuß mehr fallen.“
Die Ungewißheit, die an ihnen nagte, war darauf zurückzuführen, daß sie die genauen Verhältnisse auf der Grand-Cay-Insel nicht kannten. Sie waren auf Vermutungen angewiesen, die sich wiederum in erster Linie aus dem ergaben, was Siri-Tong über den Zustand im feindlichen Lager zu berichten wußte.
Weder die Männer der „Isabella“ noch Siri-Tong und ihre Mannen ahnten jedoch, daß sich Kapitän Charles Stewart, der Kommandant der versenkten Kriegsgaleone „Dragon“, Sir Robert Monk, der in dieser Nacht sein verdientes Ende gefunden hatte, Joe Doherty, der persönliche Profos des verblichenen Sir Andrew Clifford, sowie die sechzehn Kerle der „Lady Anne“ mehr oder weniger gewaltsam von den anderen getrennt hatten, wobei es zu einem heftigen Handgemenge und Steinwürfen gekommen war.
Stewart und O’Leary, der Bootsmann des alten Killigrew, sowie die Meute hatten ursprünglich vorgehabt, nach der „Lady Anne“ und ihrer Goldladung zu suchen, auf die sie geradezu versessen waren.
Daß sie dabei die „Caribian Queen“ gesichtet hatten, die in der Südbucht der östlichsten Insel der Pensacola Cays einlief, war tatsächlich ein reiner Zufall. Daraufhin hatte Stewart gemeinsam mit Monk und O’Leary beschlossen, in der Nacht die „Isabella“ zu entern und sofort in die Kapitänskammer einzudringen, wo der angeschossene „Bastard“ Killigrew ihrer Meinung nach liegen mußte. Hatten sie Hasard erst in der Gewalt, so hatten sie sich das ausgemalt, war alles andere nur noch ein Kinderspiel.
Sie hatten sich gründlich verrechnet. Doch Hasards Crew und die Rote Korsarin und ihre Mannschaft konnten nur herumrätseln. Wie sollten sie sich jetzt verhalten?
„Es ist völlig gleichgültig, welche Gründe für diesen Angriff maßgebend waren“, sagte Siri-Tong schließlich. „Ich bin entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten.“
„Wie?“ fragte Ben Brighton.
„Ich werde noch einmal zu der Insel der Grand Cays zurückkehren.“
„Das kommt gar nicht in Frage“, empörte sich der Profos. „Vielleicht warten sie nur darauf, weil sie inzwischen einen entsprechenden Hinterhalt gelegt haben.“
„Merkst du nicht, daß du nur Unsinn redest?“ fuhr sie ihn an. „Es muß auf jeden Fall verhindert werden, daß die Hunde einen solchen Angriff noch einmal unternehmen.“
Carberry schob das Kinn vor und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Paß bloß auf, daß du dir kein nasses Grab holst. Du hast schon genug unternommen, jetzt sind wir mal dran.“
Fast hätte sie freudlos aufgelacht. „Und wie stellst du dir das vor?“
„Hasard müßte auf die ‚Caribian Queen‘, dann könnten wir auslaufen“, sagte der Profos. „Mir juckt es in den Fingern.“
„Und an deinen Kapitän denkst du nicht, was?“ Der Kutscher war näher getreten. „Einen solchen Transport würde er kaum überleben, das sagt jedem vernünftigen Menschen der logische Verstand.“
Carberry schnaufte wie ein wütender Stier. „Ich bin aber kein vernünftiger Mensch, und deinen Logik-Kram kannst du dir sonstwohin stecken. Ich will mir diesen Stewart-Hurensohn und die O’Leary-Ratte vornehmen, kapiert? Und das wegen Hasard. Klar?“
„Das verstehe ich schon“, sagte Ben einlenkend.