O’Leary hatte es wenig genutzt, sich mit Lügen herausreden zu wollen – man hatte ihm nicht geglaubt. Sie waren ausgepeitscht und in die Vorpiek der „Orion“ geworfen worden. Was hatten sie also von diesen Marineaffen zu erwarten? Nichts Gutes.
„Da ist die Insel!“ stieß plötzlich einer der Kerle hervor. „Backbord voraus!“
„Sehr gut“, sagte Stewart bissig. „Wir laufen sie also an.“
„Sie ist noch zwanzig Meilen entfernt“, sagte Thomas Lionel.
„Quatsch“, sagte sein Bruder. „Höchstens zehn.“
„Drei bis vier“, sagte einer der Kerle, und die anderen lachten grölend.
„Zur Sache“, sagte O’Leary kaltschnäuzig. „Ich habe keine Lust, mit diesem Idioten Tottenham zu reden. Überhaupt, ich habe auch nicht die Absicht, die nördliche Bucht anzusteuern und dort zu landen. Ist das klar?“
„Du bist ein Narr, O’Leary“, sagte Stewart.
„Das trifft für dich erst recht zu. Es wäre nämlich auch schade wegen der beiden Goldkisten, denn die werden garantiert von den Marineaffen beschlagnahmt.“
„Das lasse ich nicht zu!“
„Hast du wirklich schon mal richtig darüber nachgedacht?“ fragte O’Leary mit höhnischem Grinsen.
„Ja!“
„Den Eindruck habe ich nicht.“
„Deine Eindrücke scheren mich einen Dreck!“ brüllte Stewart.
„Bilde dir bloß nicht ein, daß du über mich und die Crew dieser Jolle so einfach bestimmen kannst“, sagte O’Leary, ohne jetzt die Stimme zu heben. Er sprach in eisigem Tonfall und ließ Stewart dabei nicht aus den Augen. „Unser Kapitän ist immer noch John Killigrew, obwohl der im Augenblick leider nicht unter uns weilt – aber kein Mister Stewart.“
„Kapitän Stewart, wenn ich bitten darf“, zischte Stewart.
„Mister Stewart, du bist ganz schön hirnverbrannt.“ Der Anflug eines Grinsens huschte über O’Learys Züge, erstarb aber gleich wieder. „Für mich gibt’s nur einen Kapitän. John Killigrew. Klar?“
„Für uns auch“, brummten die Kerle.
Simon Llewellyn wollte etwas hinzufügen, aber O’Leary warf ihm einen derart scharfen Blick zu, daß er es vorzog, den Mund zu halten.
Stewart richtete den Zeigefinger auf O’Leary. „Aber diese Jolle hier, die gehört der ‚Dragon‘ und untersteht daher mir als dem Kommandanten der ‚Dragon‘.“
„Das kratzt mich überhaupt nicht.“
„Es ist meine Jolle, verdammt noch mal!“
„Na, dann sagen wir mal, ich beschlagnahme sie“, erklärte O’Leary und grinste jetzt wieder dreist und herausfordernd.
Seine Kerle grinsten ebenfalls und stießen sich untereinander mit den Ellenbogen an. Die Söhne des alten Killigrew sahen sich an, und Thomas Lionel kicherte. Sonst waren sie ziemlich aufsässig und renitent, dieses Mal aber waren sie mit dem Kurs, den O’Leary einschlug, voll einverstanden. Längst hatten auch sie aufgehorcht, und sogar Thomas Lionel war inzwischen aufgegangen, wie das Spiel zu laufen hatte.
Die Crew der „Lady Anne“ war eine wilde Schar von Raufbolden und Schlagetots, die vor so gut wie nichts zurückschreckten. Aber auch ihnen war es nicht geheuer gewesen, zu der Insel der Grand Cays zurückzukehren. Daß O’Leary auf die beiden Goldkisten spitzte, war ganz nach ihrem Geschmack.
Somit schwand die trübe Stimmung, in der sie sich nach ihrer Niederlage befunden hatten. Mit breitem Grinsen starrten sie Charles Stewart an. Plötzlich spielten einige von ihnen in eindeutiger Weise mit ihren Messern.
Stewart hatte bereits begriffen, was sich zusammenbraute. Meuterei – das hatte ihm zu seinem Pech noch gefehlt. Er biß die Zähne zusammen und unterdrückte einen Fluch. Was sollte er tun?
Er begriff natürlich auch, daß er diesen wüsten Kerlen des alten Killigrew nicht damit imponieren konnte, Kapitän der Marine Ihrer Majestät zu sein, dem sie wie Kriegsschiffbesatzungen zu gehorchen hatten. Die Hunde würden sich darüber eher totlachen.
Darum beschloß er, seine bisherige Taktik zu ändern. Es hatte keinen Zweck, sich auf Teufel komm raus mit diesem Bastard O’Leary anzulegen. Er mußte einen Köder auswerfen. Er wußte auch schon, wie er es anpacken mußte, damit sie sich darin verbissen und ihm sozusagen auf den Leim gingen, so daß er sie auf seine Seite ziehen und erneut für seine Zwecke gewinnen konnte.
3.
„Na ja“, sagte Stewart und war bemüht, seiner Stimme einen gelassenen Klang zu geben. „Wenn das so ist, müssen wir eben verhandeln. Also schön, hier mein Angebot: Ich bin bereit, den Inhalt dieser beiden Goldkisten brüderlich mit euch zu teilen.“
„Fein!“ rief Thomas Lionel und schlug die Hände zusammen, daß es laut klatschte. Er freute sich schon darauf, daß die Kisten endlich geöffnet wurden. Goldbarren waren doch etwas zu Schönes.
O’Leary hatte die Hand am Heft seines Messers und blickte ihn in wilder Mordlust an.
„Noch ein einziges Wort, du Idiot, und ich schneide dir den Hals durch!“ zischte er.
Thomas Lionel senkte den Blick. Die anderen sahen ihn auch wütend an, sogar Simon Llewellyn. Thomas Lionel hatte keine Ahnung, was er wieder falsch gemacht hatte, aber eins war klar: Er riskierte wirklich sein Leben, wenn er die Verhandlungen durch Zwischenrufe störte.
„Teilen“, sagte O’Leary gedehnt. „Und was dann?“ Er richtete den Blick wieder auf Stewart.
„Dann müßt ihr euch selbstverständlich auch meinem Kommando unterstellen.“
„Das hast du dir fein ausgedacht, du Bastard“, sagte O’Leary. „Aber wir lassen uns von dir nicht verscheißern.“ Er war völlig respektlos und saugrob, und es amüsierte ihn, daß Stewart dunkelrot im Gesicht wurde und seine Schläfenadern anschwollen.
„Wie redest du eigentlich mit mir?“ schrie Stewart.
„So, wie’s sich gehört. Der Fall ist doch wohl eher umgekehrt.“
„Umgekehrt?“
„Ja. Du kannst uns allenfalls darum bitten, das Gold mit uns teilen zu dürfen, Stewart.“
„Ich werde dich um einen Scheißdreck bitten, O’Leary“, sagte Stewart wild.
„Klar, aber wir lehnen sowieso ab, mit dir zu teilen. Denn tatsächlich gehört das Gold dem alten Sir John, beziehungsweise uns, da wir, die Männer der ‚Lady Anne‘, ja die spanische Galeone ‚Santa Cruz‘ gekapert haben, nicht wahr?“
„Nein!“
„Du leidest eben an Gedächtnisschwund“, sagte O’Leary verächtlich, „und scheinst einiges vergessen zu haben, was aber sehr wichtig ist. Die beiden hübschen Kisten da, auf denen du mit deinem breiten Hintern hockst, gehören gar nicht dir.“
„Sie gehören der Marine!“
„Scheiß auf die Marine und all ihre Affen! Das Gold gehört uns! Und wir haben nicht die geringste Absicht, mit dir zu teilen!“
„Haben wir nicht!“ brüllten die Kerle.
Stewart schnappte nach Luft. Er glaubte, zerspringen zu müssen oder vom Schlag getroffen zu werden.
„So eine verdammte Unverfrorenheit!“ brüllte er. „Aber damit kommt ihr bei mir nicht durch, ihr Schweinehunde!“
Leider begriff er viel zu spät, daß er diesen Schlagetots und Galgenvögeln auf Gedeih und Verderb ausgeliefert