Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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ihr das schlechte Beispiel ihrer Schwägerin vor Augen. Ihr Schwiegervater, der alte Medizinalrat Otto, hatte es damals keineswegs gebilligt, dass sein Sohn Fürchtegott die arme Künstlertochter geheiratet hatte. Nicht genug, dass Charlottes Vater ein Porzellanmaler gewesen war, er hatte sich obendrein noch als Tanzmeister betätigt. Jahrelang waren sich Fürchtegott und Charlotte treu geblieben. Erst als die Treue Früchte trug und sich Charlottes Leib ein wenig zu wölben begann, willigte der Alte ein. In der Rosengasse hatte er ein kleines Haus übrig, das könnten sie haben, wenn sie ihn nur nicht mehr belästigten.

      Nein, Fürchtegott und Charlotte belästigten den alten Herrn nicht mehr. Erst als die Ehe seines Sohnes Eduard das Elend einer reichen Erbin offenbarte, lenkte er ein. Während Eduards Frau bis mittags schlief, ihren Haushalt verlottern ließ und Eduard sich ins Wirtshaus flüchtete, dämmerte es dem Alten, dass allzu reiche Erbinnen für den Alltag oft wenig taugten. Sie hätte nicht einmal selbst anpacken, sondern lediglich die ihr zur Verfügung stehenden Dienstboten anweisen müssen, doch selbst das verstand sie nicht. Eduard genügten die Fluchten ins Wirtshaus bald nicht mehr, um ausreichend Abstand zwischen sich und seine Gemahlin zu bringen. Er trat beim polnischen Militär als Arzt ein, wohin ihn seine hagere Frau in Männerkleidern verfolgte.

      Da erst ließ sich der Alte zu einem Besuch in der Rosengasse herab und fand alles sehr einfach, aber ordentlich bestellt. Charlotte war eine Frau, die mit geringen Mitteln ein behagliches Heim schaffen konnte. Das leckere Essen, nach welchem der Medizinalrat sich den Mund an einer handbestickten Serviette abwischte, überzeugte ihn vollends und er war voll des Lobes über seine Schwiegertochter, die er zuvor in seinem Haus an der Frauenkirche nicht einmal hatte empfangen wollen. Er schenkte den beiden das Haus am Baderberg und ließ sich von Charlotte pflegen, als er gebrechlich wurde. Er tat ihr sogar die Ehre an, ihr medizinische Rezepte zu übereignen.

      Im Haus am Baderberg kam Louise am 26. März 1819 zur Welt. Sie war das jüngste der sechs Geschwister, von denen eines zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr lebte und der Tod bald ein weiteres zu sich holen würde.

      Louise war von Anfang an kränklich, schmächtig und schien ihren Geschwistern bald folgen zu wollen. Doch sie lebte und brachte sogar Licht ins Haus ihrer Eltern. Sie blieb ein stilles Kind. Die Mutter beobachtete oft ihre Jüngste, wie sie schaute. Louise hatte eine sehr eigene Art, in die Welt zu blicken. Ihre großen blauen Augen schienen alles durchdringen zu wollen: Jeden Menschen, den sie auf der Straße sah, die Armen, die an die Tür kamen, um Brot und kleine Münzen zu erbetteln. Sie schaute der Mutter zu, wie sie einer armen Frau das Kind aus den Armen nahm, es wusch, speiste und in saubere Tücher gewickelt der dankbaren Frau zurückgab.

      Louises Augen ruhten unverwandt auf den Damen, die sonntags ihre prächtigen Roben in die Kirche ausführten. Sie blickte scheu zu ihrem gestrengen Großvater auf, der alles darangesetzt hatte, die Ehe zwischen seinem Sohn und der Tochter eines Porzellanmalers zu verhindern. Wenn sie ihn in seinem Haus an der Frauenkirche besuchten, was selten vorkam, schaute sich Louise stumm in dem Haus mit seinen großen Zimmern und verwinkelten Treppen und Korridoren um. Man sah ihr an, dass sie all diese Erlebnisse, Menschen, Dinge auf eine intensive Weise in sich aufnahm, die der Mutter große Sorgen bereitete. Vor allem, weil Louise zuweilen ihren Blick nach innen zu kehren schien, als betrachte sie die gesammelten Eindrücke in ihrem Innersten.

      Immer wieder versuchte die Mutter, allzu heftige Ereignisse von ihrer Tochter fernzuhalten, doch Louise hatte ihre Augen und Ohren überall. Jedes Wort, das die Erwachsenen, die so viel älteren Schwestern sprachen, schnappte sie auf. Vor allem wenn der Vater von seiner Arbeit berichtete, legte die Mutter oft den Zeigefinger auf die Lippen, damit Louise nicht die dunkle Seite seines Berufes kennenlernen musste.

      Louise war zehn Jahre alt, als der Vater eines Abends mit schweren Schritten nach Hause kam. Wie immer begrüßte sie ihn schon auf der Treppe, wo er sie sonst nach ihren Schularbeiten fragte, aber an jenem Abend war es anders. Er legte ihr nur kurz die Hand auf den Kopf, ging an ihr vorbei, als sehe er sie gar nicht. In der Küche ließ er sich auf einen Stuhl fallen und stützte den Kopf in seine Hände. Louise sah, dass den Vater etwas schier Übermenschliches niederdrückte. Sie schlich ihm nach.

      »Charlotte, meine gute Frau, bitte setz dich zu mir.«

      Alarmiert schaute seine Frau ihn an. Rasch schob sie Louise aus der Küche, erteilte ihr einen Auftrag und schloss die Tür hinter ihr. Louise gehorchte ihrer Mutter üblicherweise, doch heute schaute sie durchs Schlüsselloch, schaute und lauschte, weil sie ihren eigenen Vater kaum wiedererkannte. Als sei er um Jahre gealtert, saß er zusammengesunken da. Louise sah nur seinen Rücken, ab und an das Gesicht ihrer Mutter, auf dem sich schon nach den ersten Worten des Vaters ein namenloser Schrecken ausbreitete.

      »Charlotte, sag mir, kann es wirklich die Pflicht eines Christenmenschen sein, einem anderen Menschen das Leben abzusprechen und zu nehmen?«

      Hastig nahm sie seine Hand. »Fürchtegott, musstest du wirklich …« Sie wagte nicht, es auszusprechen. Als er stumm nickte, schlug sie sich die Hand vor den Mund. »Der Himmel sei uns allen gnädig. Willst du … kannst du darüber sprechen?«, fragte sie sanft.

      »Ich musste heute den Stab brechen über einem Mörder. Er sagt, er sei unschuldig, obwohl alle Beweise gegen ihn sprechen. Es gibt sogar Zeugen. Ich will dem Mann so gerne glauben. So gerne hätte ich Gnade walten lassen, aber ich entscheide es nicht allein. Allerdings bin ich derjenige, der dann den Stab brechen und das Urteil sprechen muss. Die anderen, die mir keine Wahl gelassen haben, die gehen schön nach Hause und waschen ihre Hände in dem Wasser, das Pilatus ihnen vererbt hat. Ich bin derjenige, der mit schwerem Herzen und einem noch viel schwereren Gewissen hier sitzt.«

      Louise hielt den Atem an. Sie hatte genug verstanden, um zu wissen, dass ihr Vater, ihr gütiger Vater, einen Mann zum Tode verurteilt hatte. Sie kannte die Gebote. Du sollst nicht töten, hieß das sechste. Verstieß der Vater damit nicht gegen dieses Gebot? Manchmal gingen Louise und ihre Schwestern dem Vater entgegen, wenn er von der Arbeit kam. »Lauft bis zum Galgenberg. Dort wartet auf mich«, sagte er dann. An dem weithin sichtbaren Gerüst wurden schon lange keine Menschen mehr aufgehängt. Heutzutage wurden sie mit dem Schwert enthauptet. Konnte das alles richtig sein? Was waren das für Menschen, die Gesetze machten, die gegen göttliches Recht verstießen?

      »Musst du bei der Hinrichtung anwesend sein?«, fragte Charlotte leise.

      »Nein, das darf ich mir zum Glück ersparen. Es wird schon genug Gaffer geben, die sich eine Hinrichtung nicht entgehen lassen. Ich bin entsetzt, dass auch Leute aus unserem Freundeskreis, ja, sogar Frauen, sich eine Hinrichtung anschauen, als sei es ein Lustspiel.«

      Charlotte schaute stumm vor sich hin. »Ich weiß nicht, was in diesen Menschen vorgeht. Als ich noch ein junges Mädchen war, da überredeten mich ein paar Freundinnen mitzukommen. Sechs Räuber sollten geköpft werden.« Fürchtegott legte seiner Frau eine Hand auf den Arm, doch sie schien diese alte Geschichte loswerden zu wollen. Mit schreckensstarren Augen blickte sie in ihre Vergangenheit. »So viel Volk hatte sich versammelt. Man hätte meinen können, es sei eine Kirmes und es gebe Freibier für alle, so dicht drängten sie sich auf der Richtstätte. Ich schaute mich um, sah in all diese geifernden Gesichter, die nur darauf warteten, dass der Henker endlich beginnen möge. Die sechs Räuber – Männer, die ganz offensichtlich die Not zu ihren Schandtaten getrieben hatte – standen gefesselt auf dem Podest. Leute drängten sich nach vorn, stießen mir ihre Ellbogen in die Rippen, nur um aus nächster Nähe sehen zu können, wie der Henker diese armen Teufel köpfte. Ich blickte mich nach meinen Freundinnen um, die mich überredet hatten, ich sah sie nicht mehr. Ich sah nur noch eine Welle von Fratzen, die über mich hinwegbrandete. Ich roch nur noch die Angst der Verurteilten und die Geilheit der Menge. Ja, verzeih mir dieses Wort, ich kann es nicht anders nennen. Ich fühlte mich, als käme ich aus einer anderen Welt. War ich denn die einzige, die Mitgefühl für diese Männer hatte? Der Blick des einen traf mich, bohrte sich in meine Augen, in meinen Verstand, so flehend, voller Angst. Da wurde ich ohnmächtig und wurde weggetragen. Wenigstens dazu war man fähig. Als ich die Augen aufschlug, lag ich etwas abseits des Platzes, hörte nur noch, wie einer der Männer, die mich hergebracht hatten, darüber schimpfte, dass sie mindestens einen der Räuber verpasst hätten. Ich schleppte mich davon, denn ich hatte Angst vor den Geräuschen, dem Schreien, dem Schlag des Schwertes,