Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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im Raum.

      »Das, meine Lieben, ist die Zukunft.« Bedeutungsschwer schaute er in die Runde. Die Frauen und Mädchen konnten seine Gesichtszüge nur schemenhaft erkennen, aber das geheimnisvolle Blitzen in seinen Augen war überdeutlich. »Ja, kommt nur alle her und staunt. Kommt, Antonie und Francisca und du, meine liebe Frau. Ja, auch Tante Malchen. Kommt und schaut euch das an.« Die Mädchen, zwölf und zehn Jahre alt, ließen ihre Strickarbeiten sinken, Mutter Charlotte trocknete ihre Hände an der Schürze ab und trat an den Tisch. Sogar Tante Malchen hielt inne im Kartoffelschälen, stellte die Schüssel zur Seite und kam dazu. Gerade wollte der Vater die Schachtel öffnen, da fragte die vierzehnjährige Clementine: »Wo ist Louise? Sie muss das auch sehen. Ich lauf schnell und hol sie.« Schon war sie aus der Tür. Man hörte ihre Rufe und Schritte in der Wohnung und schließlich durchs Treppenhaus hallen.

      Unterdessen wurde die Schachtel von Tante Malchen misstrauisch beäugt. »Wenn das die Zukunft sein soll, dann bin ich traurig, nicht noch älter zu sein. Ich hoffe, dass meine Zukunft nicht in einer hässlichen Pappschachtel steckt.« Schon wollte sie sich wieder ihren Kartoffeln zuwenden, als Clementine mit Louise erschien. Die Kleine war fünf Jahre alt und tippelte an der Hand ihrer Schwester in die Küche.

      »Wenn das, was unser Vater mitgebracht hat, die Zukunft ist, dann muss Louise es auch anschauen. Schließlich ist sie die Jüngste und wird hoffentlich am längsten von uns allen leben«, sagte Clementine.

      Bei diesen Worten zog Tante Malchen unhörbar die Luft ein. Die Ottos hatten schon zwei ihrer sechs Kinder begraben. Und Louise, die schon immer so schwach und kränklich gewesen war, dass sie erst mit vier Jahren das Laufen gelernt hatte, versprach keineswegs so alt zu werden, wie Clementine es gerade prophezeit hatte. Dazu kam, dass sie nicht gerade wuchs, sondern schon als Kind einen kleinen Buckel mit sich herumschleppte und bei ihrem ohnehin unsicheren Gang leicht hinkte.

      Die Mutter schenkte ihrer optimistischen Tochter einen dankbaren Blick und forderte sie stumm auf, Louise auf einen Stuhl zu heben. Still schaute Louise ihre Familie an.

      Der Gerichtsdirektor und Stadtrat Fürchtegott Wilhelm Otto war ein Mann von klaren Worten und schlichten Taten, doch nun öffnete er die Schachtel wie ein Magier eine Schatzkiste. Den Inhalt stellte er auf den Tisch: eine kleinere Schachtel und ein Glas, das scheinbar Wasser enthielt. Die kleine Schachtel hielt er schüttelnd an sein Ohr, der Inhalt raschelte leise.

      »Schwager, die Kartoffeln springen nicht freiwillig aus ihren Schalen.« Tante Malchen hatte für derlei Firlefanz weder Zeit noch Verständnis.

      »Malchen, auch du wirst begeistert sein. Warte nur ab. Louise, du darfst die kleine Schachtel öffnen.«

      Louise tat, wie der Vater sie geheißen hatte, schaute kurz hinein und leerte den Inhalt auf den Tisch. Zum Vorschein kamen Holzstäbchen, in etwa so lang wie die Finger der Frauen, die nun danach griffen.

      Tante Malchen hielt sich eines der Stäbchen vor die Augen und schaute mit krausgezogener Nase dieses Ding an, das ihr Schwager angepriesen hatte wie das achte Weltwunder. Mit einem ärgerlichen Seufzer warf sie es zurück auf den Tisch und ging wieder an die Kartoffeln. Ihre Schwester hätte gut daran getan, einen anderen Mann zu heiraten.

      »Was macht man damit?«, fragte Louise, die die Stäbchen eingehend untersuchte.

      »Nun, ihr älteren Mädchen? Wisst ihr, was das ist? Habt ihr das noch nicht in der Zeitung gelesen?«, fragte der Vater. Auf den Gesichtern der Mädchen und der Mutter breitete sich ein Strahlen aus.

      »Ich sehe, ihr ahnt es schon«, rief er. »In dem kleinen Gefäß hier ist Schwefelsäure.« Vorsichtig öffnete er es und legte den Deckel daneben auf den Tisch.

      »Louise, du darfst ein Hölzchen vorsichtig hineintauchen, aber nur kurz. Warte, ich führe deine Hand.«

      Louise schaute ihren Vater an. Sie spürte, dass jetzt ein ganz besonderer Moment war, denn so freudig gespannt hatte sie den Vater noch nie erlebt. Sie fühlte, wie sich die große warme Hand des Vaters um ihre legte, dann tauchten sie gemeinsam den Stab in das Glas. Ein scharfes Zischen – und eine Flamme loderte am Ende des Hölzchens. Louise war so erschrocken, dass sie es beinahe fallen gelassen hätte. Feuer! Sagten die Großen nicht immer, dass man damit vorsichtig sein müsse? Noch nie hatte sie selbst die mühselige Arbeit des Feuermachens bewerkstelligen müssen, nur immer der Tante, der Mutter und der ältesten Schwester zugeschaut. Manchmal dauerte es gar zu lange, bis endlich der Funken in dem Zunder glomm und zur Flamme wuchs. Und nun? Sie selbst, die Jüngste und Kleinste von ihnen, hatte einen Holzstab in ein Glas getaucht und Licht gemacht. Stolz richtete sie sich auf. Wie eine Fackelträgerin schaute sie ihre Familie an und rief triumphierend: »Ich habe Licht gebracht!«

      Alle applaudierten. Francisca brachte eine Kerze, die Louise mit dem Streichholz entzündete, dann setzten sich alle an den Tisch, in dessen Mitte die Kerze gestellt wurde. Darum verstreut lagen die Zündhölzer.

      »Und man taucht es einfach in diese Flüssigkeit?«, fragte Antonie ungläubig.

      »Ja, in die Schwefelsäure. Aber damit muss man sehr vorsichtig sein, denn sie ist gefährlich«, erklärte der Vater. Natürlich wollte jede ausprobieren, ob sie es auch könne. Es war kinderleicht! Das Schlagen des Steins, das Pusten, das beschwörende Zureden, wenn der Funke nicht recht wollte, all das hatte jetzt ein Ende.

      »Dann bin ich jetzt wohl überflüssig?«, knurrte die Tante.

      »Malchen, ich denke, die Kartoffeln springen noch immer nicht freiwillig aus ihren Schalen. Aber du hättest Zeit gespart, in der du länger schlafen kannst – nur zum Beispiel.« Herr Otto zwinkerte seiner Schwägerin zu.

      »Oder lesen!«, warf Francisca ein, wofür sie einen strafenden Blick ihrer Tante einfing.

      »Lesen! Als müsste eine Frau lesen«, murmelte sie ärgerlich.

      »Aber sie arbeiten doch während des Lesens. Immer wird etwas im Haushalt getan, wenn eine vorliest«, rechtfertigte die Mutter ihre Töchter. »Sie nähen, sticken und stricken, schnippeln Obst und Gemüse zum Kochen und Einmachen; selbst die Vorleserin hat ihren Strickstrumpf in der Hand. Auf meine fleißigen Mädchen lasse ich nichts kommen, Schwester.«

      »Ich will, dass meine Töchter lesen«, stellte Herr Otto klar. »Clementine ist jetzt vierzehn Jahre alt, wird in diesem Jahr konfirmiert und muss die Schule verlassen. Da muss sie sich selbst weiterbilden und lesen. Ich bringe meinen Töchtern nicht umsonst die Zeitungen mit. Es wäre doch peinlich, wenn sie irgendwo in ein Gespräch verwickelt würden und wüssten dann nicht Bescheid über das, was in der Welt vor sich geht. Sie müssten sich ja schämen für ihre Ahnungslosigkeit.«

      »Lieber Schwager, ich bin der Meinung, dass anständige Mädchen gar nicht in Gespräche verwickelt werden, wo sie über Politik und dergleichen Bescheid wissen müssten.«

      »Die Mädchen werden nicht ewig hier in der Stube hocken bleiben, sondern auf Bälle gehen. Gut, bei Antonie und Francisca hat es noch etwas Zeit, aber in wenigen Jahren wird Clementine zu einem Ball gehen wollen. Unsere Töchter sind hübsch, und ich will nicht, dass man sie nur als hübsche Hüllen lobt. Sie dürfen und sollen auch für ihren Verstand gelobt werden.«

      Tante Malchen schwieg zerknittert. Es hatte keinen Sinn, mit ihrem Schwager zu streiten. Er war und blieb ein unvernünftiger Mensch.

      Trotz Tante Malchens schlechter Laune über derartig unnötige Neuerungen wurde es ein richtig ausgelassener Abend. Man hätte meinen können, im Hause Otto werde gefeiert. Tatsächlich feierte man – nichts weniger als den Fortschritt und den Anbruch einer neuen Zeit.

      Nur Louise saß wieder ganz still dabei, schaute in die von ihr entzündete Kerze und empfand ein nie gekanntes Glück; eine Ahnung, dass dies erst der Beginn einer neuen, großartigen Zeit war.

      Familie Otto besaß ein großes Eckhaus am Baderberg. Außer ihnen wohnten dort noch fünf weitere Familien zur Miete. Durch die gute Stelle als Gerichtsdirektor und die Einnahmen des Hauses hatte die Familie ein schönes Auskommen. Die Stellung des Vaters als Stadtrat