»Meine Schwägerin interessiert sich für alles. Seien es Naturwissenschaften, Literatur, Kunst. Da es hier überall Textilfabriken gibt, möchte sie nun auch diese sehen. Es gibt nichts, was sie verschmäht«, sagte Julius mit einem anerkennenden Lächeln.
»Ich kann nur hoffen, dass Sie nicht den Strickstrumpf verschmähen, Fräulein Louise«, mahnte Frau Hermsdorf.
»Aber nein, darum müssen Sie sich nicht sorgen, Frau Hermsdorf. Dafür hat schon immer unsere Mutter gesorgt, dass wir ständig etwas in der Hand haben, während wir lesen«, erklärte Antonie und begann, sich mit Frau Hermsdorf über Muster und die Qualität von Strumpfgarnen auszutauschen.
Louise war froh, dass sich das Gespräch einem anderen Gegenstand zuwandte und sie in Ruhe zu Ende essen konnte.
Während das Hausmädchen abräumte, um Raum zu schaffen für Likör und Gebäck, holten die Damen ihre Strickstrümpfe hervor. Louise wagte nicht, noch einmal auf ihren Wunsch hinzuweisen, doch als die Herren sich erhoben, um draußen Geschäftliches zu besprechen, bedeutete Herr Hermsdorf Louise, ihnen zu folgen. Erleichtert schob sie das Strickzeug wieder in ihre Tasche. Antonie war so sehr vertieft in ihre Handarbeit und ihr Gespräch mit Frau Hermsdorf, dass sie gar nicht merkte, wie die anderen aufbrachen.
Louise folgte den Herren ins Kontor. Es war ein großes Büro, in dem ein halbes Dutzend Männer an Schreibtischen saß. Stoffproben, Wollproben, Garne und dergleichen mehr lagen auf einem Tisch zur Prüfung bereit. Der Duft des Holzofens mischte sich mit der Tinte und der Wolle, die Federkiele kratzen unaufhörlich über das Papier, um in Listen und Tabellen Zahlen einzutragen, die Auskunft über den sich immer weiter mehrenden Reichtum gaben. War Herr Hermsdorf ein solcher Fabrikant wie die beiden Männer, die sie gestern noch im Café belauscht hatte? Aber er war doch so freundlich gegen sie! Würde er auch einen Arbeiter hinausprügeln lassen, wenn dieser nur zu berechtigte Forderungen stellte? Sie konnte es sich nicht vorstellen.
»Hier, Fräulein Louise, ist das Kernstück meiner Firma.« Stolz blickte er sich um. Louise konnte allerdings nur die Stirn runzeln. Papier und Tinte konnten nicht das Kernstück einer Textilfabrik sein! Höflicherweise zeigte sie sich beeindruckt. Nur Julius merkte, dass Louise etwas anderes erwartet hatte. Sie wollte die Maschinen sehen, Fabrikhallen; sie wollte sehen, wie es den Menschen ging, die dort arbeiteten.
»Du kannst sicher sein, Louise, dass es Herrn Hermsdorfs Arbeitern gut geht. Sehr viel besser als den armen Menschen, die du in Oederan gesehen hast«, versicherte ihr Julius leise.
»Ah, eine Menschenfreundin! Sie haben wohl ein sehr weiches Herz, Fräulein Louise, und möchten, dass es allen Menschen gut geht?«, fragte Herr Hermsdorf, indem er sich ein wenig zu ihr hinabneigte.
»Das wäre allerdings begrüßenswert für alle Menschen!«, erwiderte Louise und bemühte sich redlich, nicht zu scharf zu klingen. Mochte Herr Hermsdorf sie für ein harmloses Mädchen mit einem allzu weichen Herzen halten – vielleicht zeigte er ihr dann mehr von seiner Fabrik. Aber das geschah leider nicht. Julius und Herr Hermsdorf hatten ihre Geschäfte beendet, worauf sie sich verabschieden mussten.
»Zum Kaffee sind Sie wieder bei uns eingeladen«, fügte Herr Hermsdorf noch mit einer kleinen Verbeugung hinzu.
»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte Louise, als sie mit Julius in die Kutsche stieg. Antonie war bei Frau Hermsdorf geblieben.
»Es ist nicht weit, nur ein paar Augenblicke mit der Kutsche. Der Fabrikant heißt Fechter. Ich fürchte, du wirst ihn sehr viel weniger mögen als Herrn Hermsdorf.«
»Von Herrn Hermsdorfs Fabrik habe ich ja nichts gesehen, was mich gegen ihn einnehmen könnte.«
»Aber ich war schon in seiner Fabrik und kann dir sagen, dass er sehr vorbildlich ist. Er ist einer der wenigen Herren, die den Kindern Unterricht geben lassen.«
»Tatsächlich, die Kinder dürfen in die Schule gehen?«, fragte Louise erstaunt.
»An zwei Tagen in der Woche, kommt nach der Arbeit ein richtiger Lehrer zu ihnen und bringt ihnen das Nötigste bei.« Julius klang sehr anerkennend. Louise war anderer Meinung: »Du meinst, nachdem die Kinder den ganzen Tag gearbeitet haben? Was sollen sie dann noch lernen und behalten können?« Louise war fassungslos. Sie wusste, dass Kinder in den Fabriken arbeiteten und dass man ihnen in der Regel jegliche Schulbildung vorenthielt, aber einen Fabrikherrn, der an zwei Tagen völlig übermüdete Kinder unterrichten ließ, musste man noch lange nicht zur Anbetung freigeben wie einen Heiligen.
»Es ist immerhin etwas«, rang sie sich schließlich ab. Nicht zuletzt, um ihren Schwager nicht gegen sich einzunehmen, denn sie war darauf angewiesen, dass er ihr noch mehr zeigte. Mit banger Vorahnung war sie gespannt auf Herrn Fechter, den Fabrikanten, den Julius jetzt treffen musste.
Sie näherten sich dem nächsten Ort. Schmutzige Hütten, deren Strohdächer unter der Schneelast schier zusammenzubrechen schienen, drängten sich an der Straße. Menschen waren kaum zu sehen; wahrscheinlich arbeiteten jetzt alle in der Fabrik.
Bald hatten sie das Dorf durchquert und standen vor einer Villa, hinter der sich das aus vielen Schornsteinen rauchende Fabrikgelände erstreckte.
Herr Fechter, der sie in seinem Kontor begrüßte, war ein kleiner, runder Mann, dessen Erscheinung nicht darauf schließen ließ, dass er einer der reichsten Fabrikanten der Gegend war. Aus seiner schäbigen Kleidung ragte ein zum Leib passender kleiner, runder Kopf hervor. Seine grauen, stechenden Augen, die unter wild wuchernden Brauen tief im Kopf steckten, schienen überall hinzublicken. Haupthaar war nur in Ansätzen vorhanden, während sein Gesicht von den spärlichen Büscheln eines Backenbartes eingerahmt wurde. Seine Jacke war schon fadenscheinig von vielen Bürstenstrichen, die abgetragenen Hosen schlackerten um dünne Beinchen herum, die in löchrigen Schuhen steckten. Wollte er durch seine Erscheinung zeigen, dass er sich selbst nichts gönnte, und dadurch seinen Arbeitern vermitteln, dass er ihnen noch viel weniger gönnen konnte? Louise empfand unwillkürlich eine herzhafte Abscheu vor diesem Menschen, der ihr wie ein Vortänzer um das Goldene Kalb erschien.
Julius wollte Louise vorstellen, doch Herr Fechter wischte derartige Höflichkeiten weg und begann, über seinen Nachbarn zu schimpfen, einen Grafen, der nicht in der Lage sei, seine Schulden bei ihm zu bezahlen, und der sich wiederholt Aufschub erbeten hatte.
Louise legte keinen Wert darauf, von einem solchen Menschen beachtet zu werden, sondern zog sich in sich selbst zurück, um genau zuzuhören. Herr Fechter breitete einen jahrelangen Streit vor Julius aus und vergaß auch nicht zu betonen, wie viel mehr er es sich leisten könne, auf großem Fuße zu leben als dieser Graf mit seinem alten Wappen und seinem noch älteren Namen. Ein angrenzendes Waldstück, das er als Bürgschaft von dem Grafen für einen Kredit angenommen hatte, wollte er nicht mehr hergeben. Vielmehr wolle er das Land mit weiteren Fabrikhallen bebauen. Der Graf dränge ihn jedoch, die Rückzahlung der Summe um ein paar Tage zu verschieben.
»Ich lass mich doch nicht an der Nase herumführen. Noch dazu von einem Grafen!«, rief er und breitete dabei die Hände aus, als sei ein Graf der letzte Mensch, vor dem ein Herr Fechter Respekt haben müsse. »Kommen Sie mit. Ich will Ihnen zeigen, um welches Gebiet es sich handelt. Es liegt so günstig, als sei es schon mein Eigentum.«
Er führte Julius nach draußen. Louise folgte still. Während Herr Fechter schimpfte – und er schimpfte eifrig – hatte Louise Zeit, sich umzuschauen. Sie blieb ein wenig zurück, als sie zwischen den Fabrikhallen entlang liefen. Selbst durch die geschlossenen Türen und Fenster drang ein ohrenbetäubender Lärm nach draußen. Im Inneren der Hallen musste er höllisch sein. Louise reckte sich ein wenig, um durch eines der Fenster hineinschauen zu können, aber die Scheiben waren zu schmutzig. Vergeblich reckte sie sich und nahm nur Bewegungen hinter den Scheiben wahr. Ob von Maschinen oder Menschen konnte sie nicht einmal sagen. Sie schaute sich um. Julius und Herr Fechter waren nicht mehr zu sehen; vielleicht in einer der Türen verschwunden? Jetzt bekam Louise die Gelegenheit, einen Blick hineinzuwerfen. Wenn man sie ansprach, konnte sie wahrheitsgemäß sagen, dass sie ihren Schwager suchte. Beherzt öffnete sie die Tür und fühlte sich von Lärm umbrandet. Vor Schreck atmete sie tiefer ein und fühlte mit noch größerem Schrecken, wie