»Während die tatsächlichen Körper an die Koordinaten von Raum und Zeit gebunden sind, können sich ihre Abbildungen frei in Raum und Zeit bewegen. Die Abbildungen treten an die Stelle der realen Körper und verdrängen sie mehr und mehr aus dem Blickfeld. Die Abbildungen der Körper vervielfältigen sich und bringen allmählich die Körper selbst zum Verschwinden.«25
Die Integration der Computertechnik erlaubt somit theatrale Performances, in denen die Funktionen von Akteur und Zuschauer in ein und derselben Person vereint sind und der Körper zur Bühne wird.26 Daraus entsteht für Martina Leeker eine interaktive Theatralität, die als Mittler zwischen digitaler und physikalischer Welt fungiert.27 Auf diese Weise kann die Aufsplittung in physischen Körper und Datenkörper, wie sie im Computerspiel die Regel ist, auch in das Theater Einzug halten.
Dennoch bleiben Live-Situation und leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Schauspielern essentielle Merkmale von Theater.28 Zentral ist das »Stattfinden eines theatralen Events im Hier und Jetzt, welches vom emergenten und höchst spannungsreichen Wechselspiel zwischen darstellerischem Agieren und gleichzeitigem Zuschauen getragen wird.«29 So kann Theater mit Grotowski als das beschrieben werden, »was sich zwischen Schauspieler und Zuschauer abspielt«30, als die »spürbare, unmittelbare, ›lebendige‹ Kommunikation zwischen Schauspieler und Publikum.«31 Diese Live-Situation kennzeichnet Theater und Computerspielen gleichermaßen und grenzt sie somit ein weiteres Mal von klassischen Massenmedien ab.32
DIGITALES SPIEL ALS HYBRID REALITY THEATRE
Das Konzept des Hybrid Reality Theatre wurde 2014 von mir eingeführt, um zum einen auf die generellen Schnittmengen zwischen digitalem Spiel und Theater hinzuweisen und zum anderen die parallele Bespielung von digitalem und physischem Raum zu betonen.33 Das Konzept ermöglicht es, die Nutzung digitaler Spiele als (Gruppen-)Performance zu betrachten. Es setzt dort an, wo sich digitale und physische Räume begegnen, und überträgt die Akteur-Publikumsstruktur aus dem Theater auf den Bereich der Nutzung digitaler Spiele in Gemeinschaft und im Raum.
Auf Basis des in der Öffentlichkeit stattfindenden Spiels mit mobilen Endgeräten, das seine physische Umgebung miteinbezieht, wird herausgearbeitet, wie digitales Spiel durch seine quasi-öffentliche Vorführung vor einem zufälligen, fluktuierenden Publikum einen Performance-Charakter erlangt. Die Performance zieht ihren Reiz dabei nicht zuletzt daraus, dass sie gleichzeitig an digitalen und physischen Orten stattfindet, die für die Beobachter nur partiell wahrnehmbar sind. Die für das Theater herausgearbeitete Kollusion zwischen Schauspieler und Zuschauer bleibt erhalten und wird um die digitale Ebene erweitert, welche »sich der Wahrnehmung durch die Zuschauenden vollständig verschließt und nur über die Beobachtung der Aktionen der Spielenden in der physischen Welt sowie die Interaktion mit ihnen vermittelt erfahrbar wird.«34
Durch die Echtzeit-Performance werden digitale und physische Sphären über menschliche Handlungen und Bewegungen auf Seiten der spielenden und der beobachtenden Teilnehmer verbunden. Auf diese Weise kann das Geschehen als in der Hybriden Realität lokalisiert bezeichnet werden. Für Adriana de Souza e Silva konstituiert sich das Konzept der Hybrid Reality über den »mix of social practices that occur simultaneously in digital and in physical spaces, together with mobility.«35 In ähnlicher Weise identifiziert Steffen P. Walz das Ineinanderübergehen von »mobility, media and computing« als ausschlaggebendes Moment.36
Weitet man die Mobilitätskomponente auf die parallele Bewegung in digitalen und physischen Räumen aus und bezieht man spielende und beobachtende Teilnehmer gleichermaßen in die Gesamtperformance mit ein, lässt sich das Konzept des Hybrid Reality Theatre nicht nur auf den Bereich des Mobile Location Based Gamings anwenden, sondern auch auf weitere Szenarien des digitalen Spielens übertragen.
Im Folgenden werden unterschiedliche Konstellationen digitalen Spielens in Bezug auf den mit ihnen verbundenen Aufführungs- bzw. Theater-Charakter diskutiert und analysiert, inwiefern sich das Konzept des Hybrid Reality Theatre auf die einzelnen Situationen anwenden lässt. Der Fokus liegt dementsprechend auf der Kollusion zwischen Spieler/Zuschauer und Spieler/Avatar sowie der Verbindung von digitaler und physischer Ebene über die Handlungen der Akteure. Die Argumentation berücksichtigt zwei unterschiedliche Dimensionen: zum einen die Frage nach Single-Player- bzw. Multiplayer-Games, zum anderen die Lokalisierung des Spielgeschehens im privaten, teilöffentlichen und öffentlichen Raum. Begonnen wird mit den im privaten Raum auftretenden digitalen Spielkonstellationen.37
AUFFÜHRUNGEN DIGITALEN SPIELENS IM PRIVATRAUM
Wie bereits im ersten Abschnitt erläutert wurde, lässt sich die Verwendung eines Single-Player-Games als eine Zuschauer-Akteur-Situation werten, in der beide Rollen in einer Person zusammenfallen. Eine solche Konstellation erfordert dementsprechend die intensivste Einbringung des Zuschauers. Unterlässt dieser seine Handlungen (im Sinne der Steuerung des Avatars), setzt sich das Spiel nicht fort. Es kommt zum Scheitern bzw. Stagnieren der Narration. Engagiert sich der Spieler als »vierter Schöpfer« im Sinne Meyerholds38 lassen sich verschiedene Aktivitäts- und Beeinflussungsstufen ausmachen. So kann etwa der Datenkörper nur partiell bzw. ausschließlich durch Aktionen sichtbar werden (etwa First-Person-Shooter, Strategiespiele aus der Vogelperspektive), er kann sich als eine vom physischen Körper verschiedene Figur darstellen (Third-Person-Games) oder mithilfe von Videotechnik eine Abbildung desselben zeigen (bspw. Eye-Toy). In Bezug auf die gegenseitige Beeinflussung und die mit dem Spiel verbundene Aktivität lässt sich die dritte Konstellation als stärkste einstufen, da der Spieler die Handlungen der Spielfigur über vergleichbare Bewegungen im physischen Raum initiiert und über die Videoeinbindung sogar Einfluss auf äußere Erscheinung und Mimik nehmen kann. Auch in Bezug auf die Beobachtungsstruktur kann die letzte Konstellation als intensivste bezeichnet werden.
Obgleich Single-Player-Games für die Alleinnutzung durch eine Person vorgesehen sind, ist es nicht unüblich, dass sie von mehreren Personen in Gemeinschaft benutzt werden.39 Auf diese Weise wird die one-on-one-Situation zwischen Spieler und Avatar um die Anwesenheit eines Publikums erweitert. Taylor spricht von »over-the-shoulder constructions of PC play«40 sowie vom »cycling between taking in-game action and spectating«41 – einem Prinzip, das auch von Multiplayer-Games weiterverfolgt wird, die keine gleichzeitige, sondern eine alternierende Nutzung vorsehen und damit die temporäre Passivschaltung der Spieler, wie sie im Singleplayer-Game auftritt, aufgreifen.42 Für Newman stellt die Interaktivität von digitalen