Digital Games und Hybrid Reality Theatre
JUDITH ACKERMANN
EINLEITUNG
Theater und Computerspiele werden häufig in vollständig differenten Sphären lokalisiert. Dabei wird übersehen, dass ihre Funktionsweisen weitaus weniger verschieden sind, als man zunächst annehmen könnte. So wie das Handeln auf der Theaterbühne als »nach eigenen Gesetzen lebende[n] Eigenkunst sozialen Charakters«1 bezeichnet werden kann, folgt auch das Spielen am Computer »selbstbezüglichen Regeln, die nur für den Sinnzusammenhang des Spiels gelten« und »gegenüber der gewohnten Wirklichkeit verfremdet« erscheinen.2 Juul folgend stellt das digitale Spiel eine Kombination von Regeln und Fiktion dar.3 Das damit einhergehende Spannungsverhältnis zwischen Spielregeln und spielerischer Zweckfreiheit zieht sich durch Spiel- und Theatertheorien gleichermaßen.4 Nach Herrmann lässt sich das Theater als soziales Spiel beschreiben, als »ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind – Teilnehmer und Zuschauer.«5 Auf diese Weise werden die Zuschauer aus der Rolle bloßer Beobachter enthoben:
»[Sie werden] als Mitspieler begriffen, welche die Aufführung durch ihre […] physische Präsenz, ihre Wahrnehmung, Rezeption und Reaktion mit hervorbringen. Die Kommunikationsbedingungen einer Aufführung werden so als Regeln eines Spiels bestimmt, die zwischen allen Teilnehmern – Akteuren und Zuschauern – ausgehandelt werden und gleichermaßen von allen befolgt oder gebrochen werden können.«6
Auch hier wird die Nähe zum digitalen Spiel einmal mehr greifbar. Der vorliegende Artikel spürt den Schnittmengen von Theater und digitalen Spielen nach und konzentriert sich insbesondere auf die jeweils beteiligten Teilnehmer. Begonnen wird mit der Vorstellung der an einer Theateraufführung beteiligten Akteure, um davon ausgehend nach Entsprechungen im Bereich des Computerspielens zu suchen. Daran anschließend werden das Konzept des »Hybrid Reality Theatre«7 vorgestellt und unterschiedliche Konstellationen des digitalen Spielens in privaten, teilöffentlichen und öffentlichen Räumen unter Fragestellungen ihres Aufführungscharakters diskutiert und in Bezug auf Überschneidungen mit dem Theater untersucht.
AKTEURE IN THEATER UND DIGITALEN SPIELEN
1871 stellte Otto Ludwig in seinen Shakespeare-Studien heraus, dass am dramatischen Kunstwerk drei Instanzen beteiligt seien: Dichter, Schauspieler und Zuschauer. Das Kunstwerk entstehe dabei erst während der Aufführung »im Innern des Zuschauers […] durch des Dichters, des Schauspielers und sein eignes Zutun.«8 Auch Georg Fuchs erklärte, dass das Drama untrennbar mit seiner Rezeption durch ein Publikum (»festliche Menge«) verbunden sei9 und erst während des Erlebens durch die Zuschauer entstehe: »Das dramatische Kunstwerk besteht weder auf der Bühne noch gar im Buche, sondern es entsteht in jedem Augenblicke neu, in welchem es als räumlich-zeitlich bedingte Bewegungsform erlebt wird.«10 Zusätzlich betont Fuchs die Individualität des theatralen Erlebens, das von »jedem einzelnen Zuschauer anders erlebt«11 werde. Karl Lazarowicz spricht von einer triadischen Kollusion12 an der Zuschauer, Schauspieler und Autoren auf jeweils spezifische Weise beteiligt seien: So obliege es dem Handeln der Autoren, »ein literarisches Zeichensystem«13 zu entwerfen, welches die Schauspieler in »ein szenisches Zeichensystem«14 transformieren.
»Die Leistung der Zuschauer […] besteht darin, daß sie […] die szenischen Informationen wahrnehmen, sie apperzipierend strukturieren und sie verstehend, auslegend und erlebend ihrem ästhetischen Erfahrungsbesitz einverleiben. Erst diese sensuellen, imaginativen und rationalen Zuschau-Akte konstituieren Theater. Hier verstanden als eine spezifische Erscheinungsform des ›work in progress‹. Nämlich als triadische Kollusion.«15
Diese Beschreibung betont den prozessualen Charakter des Theaters. Bereits der dramatische Text stellt »keine in sich ruhende Form dar […], sondern [hält] per definitionem eine Schnittstelle zur szenischen Darstellung bereit«,16 wodurch er sich deutlich von anderen literarischen Formen abhebt:
»Ein Roman braucht keine Leser zu haben. Ebenso ein lyrisches Gedicht. Beim Theater ist es etwas anderes. Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst.«17
Im Gegensatz dazu hat »der Text als solcher noch nichts mit Theater zu tun.«18 In ähnlicher Weise bedarf auch das Computerspiel als interaktives Medium seiner Nutzer, um in Gänze entfaltet werden zu können. Interaktive Medien bieten nicht ein fertiges Produkt zur Betrachtung an, sondern stellen eine Kommunikationsstruktur dar, die die Betrachter zu Mitgestaltern erhebt.19 Wie beim Theater vollzieht sich das prozessuale Kunstwerk in Abhängigkeit von den beteiligten Spielern auf teilweise sehr differente Art und Weise. Hierin zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu klassischen Massenmedien (z.B. dem Film), die sich – abgesehen von minimalen Abweichungen im Aufführungssetting oder unvorhergesehenen Störungen im Ablauf – unabhängig von den Personen, die sich mit ihnen auseinandersetzen, nicht verändern. Die einmal aufgezeichnete Narration vollzieht sich bei jeder Sichtung auf die immer gleiche Weise. Im Gegensatz dazu greift das Computerspiel das Prinzip der triadischen Kollusion auf. Möchte man analog zum Theater von einer intraludischen Kommunikation sprechen, so findet diese zwischen Gamedesigner, Spieler/Avatar und Spieler/Zuschauer statt.
Wie der Dichter erschafft der Game Designer erst die Grundlage für das Spielen am Computer. Auch hier ist das Werk – im Sinne eines digitalen Zeichensystems – bereits auf die Vervollständigung durch den Spieler bzw. den Avatar – im Sinne der Transformation in ein szenisches Zeichensystem – ausgelegt und wird vom Spieler in der Rolle des Zuschauers gleichzeitig apperzipiert und verstanden. Anders als beim Theater kommt es beim digitalen Spiel in der Regel zu einer »Verdoppelung des Körpers des Spielers in einen realen und einen Datenkörper.«20 Die vom Spieler initiierten Spielhandlungen werden »vom Computer medialisiert, transformiert und dargestellt […]. Das Ergebnis dieser Medialisierung sieht der Spieler auf dem Monitor: die Repräsentationen seiner eigenen Handlungen in einer fiktionalen Spielwelt.«21 Auf diese Weise lässt sich die Beziehung zwischen Spieler und Avatar nicht nur als eine handlungsbedingende, sondern auch als eine beobachtende bezeichnen. Die Handlungsräume beider Körper unterscheiden sich deutlich voneinander. Anders als der Avatar, der ein »vielfältiges Handlungsinventar mit unterschiedlichen Bewegungsabläufen« hat, agiert der Spieler meist in einem »vergleichsweise enge[n] Betätigungsfeld, […] in dem Bewegungsabläufe typisch sind, die sich im Wesentlichen auf feinmotorische Finger-, Hand-, Arm- und Kopfbewegungen beschränken.«22
Der Spieler ist Akteur und Zuschauer