Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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Initialen E. H. eingestickt. „Das hat Jo für mich gemacht, als ich noch ganz klein war.“

      „Wirklich?“ Susanne betrachtete das Herz genauer.

      „Er ist ziemlich ungeschickt, was das Nähen betrifft, wie du dir denken kannst.“ Edda grinste. „Aber er war furchtbar stolz, als er es zu Ende gefertigt hatte.“

      Die Initialen waren tatsächlich nicht besonders geschickt genäht, trotzdem besaß das Herz Charme, vermutlich, weil es eine so besondere Bedeutung hatte.

      „So jemanden hatte ich nie“, sagte Susanne. „Meine Eltern hätten so etwas nie für mich gemacht.“

      „Meine auch nicht“, gab Edda zurück. „Und ich habe ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Aber ich bin mir sicher, wenn es Jo wieder besser geht, bekommst du auch so eins von ihm.“

      Susanne schob das Herz wieder zu Edda hinüber. „Ich bin nicht seine Lieblingsnichte.“

      „Aber du bist eine gute Freundin.“ Edda griff nach ihrem Arm. „Du bist ein großartiger Mensch, genauso wie du bist. Völlig egal, was dein dämlicher Vater sagt.“

      Wieder schwiegen sie und es schien eine kleine Ewigkeit zu vergehen.

      „Worüber denkst du nach?“, fragte Edda dann.

      Susanne neigte grübelnd den Kopf. „Ich versuche herauszufinden, wie mein Leben so werden konnte. Wie ich von der harmlosen Punkerin bis zu dem Punkt kam, an dem ich jetzt bin. Was ist da schiefgelaufen?“

      „Das hast du dir nicht ausgesucht, Susanne. Für deine Eltern kannst du nichts, die kann man sich halt mal nicht aussuchen. Und dann bist du in eine Geschichte geraten, die sich niemand in seiner blühendsten Fantasie so hätte ausmalen können. Aber hey, du schlägst dich wirklich tapfer, ehrenwert, wie eine wahre Kämpferin.“

      Susanne seufzte leise. „Ich fühle mich aber grässlich. Ich habe dich und Jo in diese Geschichte hineingezogen, das hätte ich niemals tun dürfen. Wenn ich nicht gewesen wäre … Es tut mir wirklich leid.“

      „Solche Gedanken sind Zeitverschwendung. Du hast Hilfe gebraucht und wir haben sie dir gerne gegeben. Davon abgesehen, hast du uns in nichts hineingezogen. Wir haben uns freiwillig bereit erklärt, dir zu helfen, als du Hilfe brauchtest.“

      „Ich habe trotzdem Schuldgefühle.“ Susanne trank noch einen Schluck Wodka und verzog das Gesicht. „Weil die Wahrheit ist, Edda: Völlig egal, für wie schlau wir uns auch halten, egal, wie weit wir vorausplanen, wir halten die Fäden nicht in der Hand. Das machen die Kraniche. Das macht der Zaren. Er entscheidet über unser Schicksal. Weil er immer einen Schritt schneller ist.“

      Nach kurzem Nachdenken sagte Edda: „Du hast da noch jemanden vergessen.“

      „Wirklich? Wen?“

      „Ihn.“ Edda deutete in Richtung Decke. „Meine Mutter ist der Meinung, dass man immer in die Richtung geht, in die Gott einen führt.“

      „Ja? Und welche Richtung ist das jetzt gerade?“

      „Das weiß ich leider auch nicht. Aber was für eine Alternative haben wir? Wollen wir es lassen und uns still verhalten? Nicht nachfragen und nicht nachbohren? Die Kraniche Kraniche sein lassen und den Zaren Zaren?“

      Susanne brauchte darauf nicht zu antworten, denn die Antwort war klar: Das war keine Alternative.

      10. KAPITEL

      „Fallen Sie in Ohnmacht.“

      Im Inneren des Bahnhofs schlug ihnen der Lärm von Menschen entgegen und das, obwohl es schon nach 23:30 Uhr war. Überall hing Weihnachtsdekoration und aus den Lautsprechern drang „Jingle Bells“. In der Luft lagen jede Menge fremde Gerüche, ein Cocktail aus Rasierwasser, Parfums, Zigaretten und Schweiß. Es war, als wären die Menschen nach einem Blick auf den Kalender in Panik geraten, als sie feststellten, dass morgen Weihnachten war und sie - mit Tonnen von Geschenken im Gepäck – eilig zu ihren Familien reisen mussten.

      Durch die Lautsprecher wurde etwas Unverständliches angekündigt. Ein junger Mann griff nach Julias Arm, sie zuckte zusammen und war sofort bereit, einen Angriff abzuwehren, doch er suchte nur nach einer Mitfahrgelegenheit. Sie lehnte unfreundlicher ab, als sie es eigentlich wollte, und reichte – um die Sache wieder etwas gutzumachen – ein paar Meter weiter einem Obdachlosen einen -Euro-Schein. „Gott segne Sie“, sagte er erfreut.

      Sie eilten weiter in Richtung Schließfächer. Julias Herz schlug schneller, als sie schließlich den Schlüssel ins Schloss steckte und das Fach öffnete. Als sie hineinsah, entdeckte sie eine Plastiktüte. Sie holte sie heraus.

      Im selben Augenblick gab Eva ihr einen unsanften Schubs. „Julia, da!“

      Julia drehte sich um und sah in die Richtung, in die Eva blickte. Und dann sah auch sie ihn. Er war ganz in Schwarz gekleidet, trug einen langen Mantel, und ihn umgab eine Aura von … es gab keine bessere Beschreibung dafür: Als wäre er der Odem des Teufels. Sie sah ihm direkt in die Augen, mehr fasziniert als erschrocken, und er blickte zurück.

      „Oh, mein Gott!“, stieß Eva aus. „Die haben uns gefunden! Schon wieder!“

      „Komm.“ Julia legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich.

      Es waren ungefähr dreißig Meter bis zum Ausgang. Das war nicht wenig, wenn man verfolgt wurde, und der Mann in Schwarz kam näher.

      Unerbittlich schob Julia Eva weiter, an Menschen vorbei, im Zickzack zwischen ihnen hindurch. Dabei warfen sie eine Frau um, die zu Boden fiel. Sie mussten über sie hinwegsteigen.

      Empört schimpfte die Frau hinter ihnen her.

      Julia warf einen raschen Blick über ihre Schulter. Der Mann folgte ihnen weiter und verhielt sich dabei noch rücksichtsloser als sie. Was zur Folge hatte, dass ihr Vorsprung immer mehr schwand.

      „Vielleicht sollten wir besser hier im Bahnhof hierbleiben“, sagte Eva außer Atem. „Hier drinnen wird er uns bestimmt nicht über den Haufen schießen.“

      „Ich würde nicht darauf wetten“, gab Julia zurück.

      Noch fünfzehn Meter.

      Der Verfolger stieß mit einem anderen Mann zusammen. „Hey!“, rief der ärgerlich aus. „Können Sie nicht aufpassen?“

      Julia und Eva nutzten den kleinen Zwischenfall und eilten weiter in Richtung Ausgang.

      Doch dann blieb Eva abrupt stehen. „Da ist noch einer!“

      Auch Julia sah ihn. Er war ebenfalls schwarz gekleidet wie der Verfolger hinter ihnen und sah ihnen mit kaltem Lächeln entgegen, während er unter seine Jacke griff.

      „Oh, mein Gott! Er wird uns umbringen!“, stieß Eva aus.

      In Julias Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie drehte sich zu dem Verfolger um, der sich in ihrem Rücken befand. Die Lampen über ihm zauberten einen Lichtkreis um seinen Kopf, der ausgesehen haben könnte wie ein Heiligenschein, wenn man es nicht besser gewusst hätte. Er grinste und griff ebenfalls unter seine Jacke.

      Julia breitete die Arme aus. Hinterher hätte sie nicht mehr sagen können, ob es eine Geste der Kapitulation war oder der Versuch, Eva zu schützen.

      Auf jeden Fall schob sich genau in dem Moment ein weiterer Mann zwischen sie und Eva. Er trug einen zerknitterten Mantel, einen struppigen Vollbart, eine runde Brille auf der Nase und graue Haarlocken quollen unter einem schwarzen Hut hervor. „Fallen Sie in Ohnmacht“, zischte er in Evas Richtung.

      „Was?“, fragte sie konsterniert.

      „Tun Sie es. Fallen Sie in Ohnmacht. Das ist Ihre einzige Chance. Los, machen Sie schon.“

      Keine Sekunde später begann Eva zu schwanken, fasste sich an die Stirn, verlor das Gleichgewicht und sank auf den Boden.

      Julia verstand und rief: „Eva?“ Viel lauter als nötig. „Was ist denn nur los? Ich bitte dich! Komm zu dir!“