Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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ging zu einem Safe in der Ecke, gab eine Zahlenkombination ein und öffnete die schwere Stahltür. Mit einem kleinen Schlüssel kam er zu Julia zurück. Er reichte ihn ihr. „Bitte sehr.“

      Sie griff danach und drehte ihn zwischen den Fingern. Er gehörte zu einem Bahnhofsschließfach. „Wann hat Susanne Ihnen den Schlüssel gegeben?“, wollte sie wissen.

      „Gestern.“

      „Gestern?“ Julia sah auf. Dann hatten sie sich nur knapp verpasst. „Und wo ist sie jetzt?“

      „Das weiß ich nicht.“ Jörg breitete die Arme aus. „Wir haben uns getroffen, sie gab mir den Schlüssel und dann ist sie wieder verschwunden.“

      „Aber sie muss doch irgendetwas gesagt haben.“

      „Sie meinte nur, ich müsse ihr vertrauen. Und dass ich sehr vorsichtig sein müsse. Das war es. Dann ist sie, wie gesagt, wieder verschwunden.“ Jörg deutete auf den Schlüssel in Julias Hand. „Ich schätze, Sie werden alles erfahren, wenn Sie damit das Schließfach geöffnet haben.“

      Julia blickte wieder auf den Schlüssel in ihrer Hand. „Ich habe Susanne das letzte Mal gesehen, als ich ihr bei der Flucht aus der Psychiatrie geholfen habe. Das war im letzten Sommer.“ Sie sah Jörg wieder an. „Wo war sie die ganze Zeit? Hat sie es bis nach Norwegen geschafft?“

      „Ja.“

      „Dann war sie in meinem Ferienhaus?“

      „Nein. Sie war bei Ihrem Nachbarn. Jo Holmen.“

      „Bei Jo?“ Jetzt war Julia ehrlich überrascht.

      Jörg nickte. „Sie wäre um ein Haar von der Polizei erwischt worden und er bot ihr Unterschlupf, bis sie unbedingt nach Deutschland zurückkommen wollte …“ Seine Stimme verebbte.

      „Und warum wollte sie unbedingt nach Deutschland zurückkommen?“, fragte Julia weiter.

      „Sie hatte herausgefunden, dass sie hereingelegt worden war. Jemand wollte, dass sie in der geschlossenen Psychiatrie landete, und sie wollte herausfinden, wer ihr das angetan hatte.“

      „Hat sie Namen genannt?“

      „Kraniche.“

      Julia nickte langsam. Sie hatte es befürchtet.

      Jörg wollte noch etwas hinzufügen, doch in dem Moment sagte Eva: „Da unten steht jemand.“

      „Was?“ Julia neigte den Oberkörper etwas nach vorne und spähte aus dem Fenster. Tatsächlich, unten auf der Straße stand ein Mann, der genau in dem Moment zu ihnen heraufsah.

      Schnell zog Julia sich zurück und Eva mit sich. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein Kranich? Und wenn ja, was tun? Flüchten? Wenn sie flüchteten, würden sie vermutlich am Ausgang des Gebäudes kaltblütig erschossen werden.

      „Glaubst du, das ist ein Kranich?“, fragte Eva alarmiert.

      „Ich weiß es nicht. Aber ich möchte es auch nicht darauf ankommen lassen, es herauszufinden. Wir müssen irgendwie hier raus.“

      „Auf der hinteren Seite des Gebäudes gibt es eine Feuerleiter“, sagte Jörg. „Eine alte Metallleiter, die an der Fassade entlangführt.“

      „Und wenn sie dort auch auf uns warten?“, sagte Eva. „Was dann?“

      „Ich schätze“, gab Julia zurück, „wir müssen es versuchen.“

      Um zur hinteren Seite des Gebäudes zu gelangen, mussten sie den Flur bis zum Ende durcheilen. Dann erreichten sie ein Fenster. Jörg öffnete es und sagte: „Sie werden ein Stück klettern müssen.“

      „Und Sie?“, fragte Julia.

      Er machte eine kurze Handbewegung. „Ich werde nach unten gehen und versuchen, sie aufzuhalten.“

      „Und wenn sie auf Sie schießen?“

      „Durchaus möglich, dass sie das tun werden. Aber in der Zeit, in der die Kerle bemerken, dass Sie nicht bei mir sind, können Sie beide abhauen. Allerdings sollten Sie sich jetzt wirklich beeilen.“

      Julia sah Eva an. „Ich zuerst.“ Sie stieg auf das Fensterbrett und setzte ein Bein nach draußen. Die Treppe war einen Meter unterhalb des Fensters montiert. Auf halber Höhe gab es einen Sims, nicht sehr breit, aber breit genug, um sich daran festzuhalten. Sie kletterte aus dem Fenster und hielt sich am Sims fest, während ihre Füße nach der ersten Stufe der Leiter suchten. Als sie sie gefunden hatte, stellte sie sich darauf.

      Eva stieg ebenfalls ins Fenster, wollte den Rahmen aber nicht loslassen. „Komm“, sagte Julia. „Halt dich am Sims fest.“

      „Ich kann nicht.“

      „Doch, du schaffst das.“

      Vorsichtig kletterte Eva aus dem Fenster, hielt sich am Sims fest und ließ ganz langsam den rechten Fuß hinunter zur Leiter gleiten. Fast hätte sie dabei das Gleichgewicht verloren, und Julia glaubte, ihr müsse das Herz stehen bleiben.

      Vor lauter Schreck presste Eva sich wieder an den Sims. Sie holte tief Luft, versuchte es noch einmal, und diesmal berührte ihr rechter Fuß die Stufe der Leiter.

      Es folgte der linke Fuß. Dann stand sie auf der Leiter, und sie begannen so schnell wie möglich, die Stufen hinunterzuklettern.

      Sechs Stockwerke.

      Die Minuten zogen sich endlos in die Länge.

      Als nur noch wenige Stufen übrig waren, sprang Julia seitlich über das Geländer und landete im Schnee.

      Eva tat dasselbe und landete neben ihr. „Und was jetzt?“, fragte sie außer Atem.

      „Wir müssen zum Bahnhof laufen“, sagte Julia. „Oder ein Taxi nehmen, wenn wir eins finden.“

      Sie liefen so schnell sie konnten.

      9. KAPITEL

      „Was für eine Alternative haben wir?“

      Norwegen

      „Hoffentlich ist Jo gegen Sturmschäden versichert“, sagte Susanne.

      „Ja. Hoffentlich.“ Edda ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche heraus. „Möchtest du auch?“

      „Wodka?“

      „Flüssiger Müdemacher.“

      „Gib her.“

      Edda kam mit der Flasche und zwei Gläsern an den Tisch und setzte sich. Das Licht der Lampe an der Decke warf ihren unsteten, mattgelben Schatten an die Wand. Sie schenkte etwas von dem Alkohol in die beiden Gläser und schob eins zu Susanne hinüber. „Auf Jo.“

      „Auf Jo.“ Susanne hob ihr Glas an, trank aber nicht. „Das war vorhin ganz schön unheimlich. Das alles ist ganz schön unheimlich. Zuerst Claas Mok und seine Geschichte um Sofie Dale, die Kraniche und den Zaren. Dann Jos heimliche Recherchen und sein Herzinfarkt. Dann dieser Sturm und das Fenster, das zerbricht …“

      „Das war nur das Wetter“, entgegnete Edda. „Mehr nicht.“

      „Klar. Was auch sonst?“ Susanne hob das Glas an und nippte. Ein Schwall sengender Hitze erfüllte ihre Nase und ein regelrechter Flammenstrom floss durch ihre Kehle. Sie stellte das Glas wieder ab. „Da sitzen wir, mitten in der Nacht, und machen uns vor Angst in die Höschen.“

      „Du machst dir vielleicht ins Höschen“, bemerkte Edda trocken. „Ich nicht.“

      „Ja, du bist eine Heldin vor dem Herrn, Edda Holmen.“

      „Ich weiß.“

      Sie schwiegen ein paar Sekunden.

      „Kann ich dich was fragen?“, sagte Susanne dann.

      Edda hob den Kopf. „Klar.“

      „Hast du überhaupt keine Angst?“