Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
Скачать книгу
Vorhang flatterte wie eine Fahne im Wind. Auf dem Boden lagen überall Scherben, die fast bis zur Tür geflogen waren. Im Fenster befanden sich nur noch Glassplitter.

      Wie auf Eiern ging Edda durch den Raum. Beim Fenster angekommen, versuchte sie die Läden zu schließen. Der Wind riss sie ihr aus den Händen und ein Glassplitter bohrte sich in ihren Ellbogen. Susanne kam ihr zu Hilfe und mit Mühe schlossen sie die Läden. Der Wind heulte weiter durch die Ritzen, kam nun aber nicht mehr in Böen, sondern drängte mit gleichbleibender Kraft gegen das Haus.

      Blut lief Eddas Arm hinunter.

      Susanne zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und reichte es ihr. Im nächsten Moment krachte es wieder. Dieses Mal wie ein Donnerschlag. Aber die Läden hielten dem Druck des Windes stand.

      Edda wischte sich das Blut vom Arm. „Tja, das Fenster ist im Eimer“, sagte sie. „Komm, wir müssen die Tür von außen schließen und alles abdecken, wodurch die Luft ziehen könnte.“

      Sie holten Handtücher aus dem Badezimmer und machten sich an die Arbeit.

      Schließlich sagte Edda: „Lass uns nach unten gehen. Ich muss ins Bad, die Schnittwunde versorgen.“

      Wieder flackerte das Licht über ihnen, ging für einen kurzen Moment aus, dann wieder an.

      Susanne sah zur Decke und rührte sich nicht.

      Edda griff nach ihrem Arm. „Es ist alles in Ordnung. Es ist nur das Wetter. Komm, gehen wir wieder nach unten.“

      Alles in Ordnung.

      Ein netter Satz.

      Und viel zu harmlos.

      8. KAPITEL

      „Da unten steht jemand.“

      Hannover

      22:44 Uhr

      Julia und Eva standen im gelblichen Licht einer Straßenlampe, inmitten von unzähligen Schneeflocken, und betrachteten das Mehrfamilienhaus, das weiß und rot gestrichen war, einladend und elegant aussah und umgeben war von ähnlich eleganten Häusern.

      „Glaubst du das wirklich?“ Eva rieb die behandschuhten Hände gegeneinander. „Ich meine, könnte S. G. nicht auch etwas ganz anderes bedeuten? Warum sollte ausgerechnet Susanne Grimm dir eine Nachricht in einem Totenkopf hinterlassen? Woher sollte sie überhaupt gewusst haben, dass sich die Kassette in der Kapelle befindet?“

      „Keine Ahnung.“ In Julias Kopf wirbelte alles durcheinander. „Aber wenn es so ist, dann bedeutet das, dass sie ebenfalls mitten in dieser Geschichte steckt. Und dass sie vermutlich Ärger hat. Eine Menge Ärger.“

      „Na, das ist ja nichts Neues.“ Eva schnaubte. „Soviel ich weiß, gibt es überall Ärger, wo diese Frau auftaucht.“

      Julia blieb stehen und sah sie an. „Ich weiß, dass du nicht gerade Susannes größter Fan bist, aber jetzt ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt für Eifersucht, okay?“

      „Ich bin nicht eifersüchtig.“

      „Nein? Was dann?“

      „Es macht mich einfach nur krank, dass …“ Eva brach ab. „Vergiss es. Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“

      „Begib dich in den Schoß der Familie und sieh, was Brüder dir tun können. Dann findest du die Antwort.“ Julia schaute an der Fassade des Hauses hoch. „Ich wüsste nicht, was das sonst bedeuten könnte.“ Sie setzte sich wieder in Bewegung.

      Eva folgte ihr. „Das Ganze könnte aber auch eine Falle sein.“

      „Du meinst, Susanne wartet bei ihrem Bruder auf uns, um uns umzubringen? Das ist lächerlich.“

      „Sie vielleicht nicht. Aber die Kraniche.“

      „Du meinst, sie hat uns verraten?“

      „Warum nicht? Zuzutrauen wäre es ihr. Immerhin war sie in der geschlossenen Psychiatrie.“

      „Da war ich auch.“

      „Sie war aber dort wegen eines Mordversuchs.“

      „So eindeutig war das nicht. Sie wollte eine andere Frau vor einer Vergewaltigung bewahren.“

      „Und hat mit einer Glasscherbe zugestochen.“

      Julia blieb wieder stehen und blickte einen Moment in den schwarzen Himmel, ehe sie Eva ansah. „Sie ist ein guter Mensch. Können wir es dabei belassen?“

      Eva erwiderte den Blick trotzig. „Das sagst du nur, weil du in sie verliebt warst.“

      „Das war ich nicht. Das ist Unsinn. Susanne und ich waren in der Psychiatrie sehr einsam, nur deshalb haben wir uns dort aufeinander eingelassen. Ja, wir hatten Sex. Aber das hatte überhaupt nichts mit irgendwelchen Gefühlen zu tun. Und ich meine auch, ich hätte dir das mehr als einmal ausführlich erklärt.“

      Eva öffnete den Mund und sagte etwas, doch eine heftige Windbö riss ihre Worte fort. Gleich darauf machte sie eine resignierende Handbewegung. „Ja, hast du. Hast du. Komm, lass es uns hinter uns bringen.“

      Sie setzten sich wieder in Bewegung.

      „Glaubst du, er macht uns überhaupt auf? Mitten in der Nacht?“, sagte Eva.

      „Das werden wir sehen“, gab Julia zurück.

      Beim Haus angekommen, nahm sie die Klingeln neben Messing-Namensschildern ins Visier, drückte dann auf den Namen „Jörg Grimm“ und wartete.

      Es dauerte eine ganze Weile, dann meldete sich eine Stimme aus der Sprechanlange. „Ja?“

      „Julia Wagner. Entschuldigen Sie die späte Störung. Aber …“

      „Warten Sie, ich komme runter.“

      Gleich darauf kam ein schlanker, großer Mann, ungefähr einen Meter neunzig, aus dem Haus. Er sah überhaupt nicht so aus, als hätten sie ihn aus dem Bett geklingelt. „Zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis“, sagte er zu Julia.

      Sie suchte in ihrer Jackentasche, fischte den Ausweis heraus und reichte ihn ihm.

      Er studierte das Dokument eingehend, dann hob er den Blick und sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie tatsächlich kommen würden. Aber meine Schwester war sich sicher.“

      „Sie wissen also, worum es geht?“, sagte Julia.

      „Ich weiß nicht alles. Aber was ich weiß, reicht. Kommen Sie mit.“ Er führte sie zu einem dunklen Audi Kombi, der am Straßenrand geparkt stand.

      „Wo fahren wir hin?“, wollte Julia wissen.

      „Zu meinem Büro. Tut mir leid, aber anders war die Sache leider nicht zu lösen. Ich habe Susanne versprochen, ihr und Ihnen zu helfen, aber ich weiß auch, wie gefährlich die Menschen sind, mit denen wir es hier zu tun haben.“ Er öffnete den Wagen. „Steigen Sie ein.“

      Während sie über die verschneite Straße fuhren, sagte Jörg Grimm: „In meinem Büro habe ich einen Stahltresor. Ich dachte, dort ist er sicher.“

      „Wer?“, fragte Julia.

      „Der Schlüssel, den Susanne mir gegeben hat.“ Immer wieder blickte Jörg in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte. „Er gehört zu einem Schließfach.“

      Ein paar Minuten später erreichten sie ein Bürogebäude.

      „Kommen Sie“, sagte Jörg und stieg aus.

      Das Bürogebäude selbst war unscheinbar und unterschied sich nicht von den Nebengebäuden.

      Sie verzichteten darauf, einen der Fahrstühle zu nehmen, und stiegen stattdessen die Treppen hinauf bis in den sechsten Stock. Dann gingen sie einen langen, mit Teppichboden ausgelegten Flur entlang, vorbei an mehreren Türen. Schließlich blieb Jörg stehen und öffnete eine davon mit einem Kartenschlüssel aus Plastik. Das Klicken des Schlosses hallte leise im Flur wider.