Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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aus Verzweiflung begann sie daran herumzufummeln.

      „Kannst du mir mal sagen, was du da machst?“, fragte Eva hinter ihr.

      „Nein, kann ich nicht, weil ich es selbst nicht weiß“, sagte Julia. „Aber ich finde es merkwürdig, dass dieser Jesus hier von keinem einzigen Nagel durchbohrt ist. Das ist doch ungewöhnlich, oder nicht?“

      „Von Nägeln durchbohrte Körper sind gerade nicht mein Lieblingsthema.“

      „Meins auch nicht. Und trotzdem …“ Julia suchte in ihren Jackentaschen, zog ein Schweizer Taschenmesser hervor und puhlte einen Schraubenzieher heraus. Damit zielte sie auf die Innenfläche der Hände Christi. Das tat sie mehrmals, ohne dass etwas geschah. Doch dann, gerade als sie aufgeben wollte, erklang hinter ihnen ein Geräusch.

      Sie drehten sich um und beobachteten mit großen Augen, wie die Steinplatte, an der sie vor ein paar Minuten noch gezogen und gezerrt hatten, sich auf einmal wie von selbst bewegte. Sie fuhr ein paar Zentimeter nach unten und dann zur Seite, wodurch eine viereckige Öffnung genau dort entstand, wo sie sich eben noch befunden hatte.

      „Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es Eva.

      Sie eilten auf die Öffnung zu und beugten sich darüber wie zwei Hennen über ein schlüpfendes Küken.

      Und zuckten gleichzeitig wieder zurück.

      In dem Loch befand sich nichts außer einem Totenkopf.

      „Ernsthaft!“ Eva fasste sich ans Herz. „Ist ein leibhaftiger Toter am Abend nicht ausreichend? Müssen es jetzt auch noch Totenköpfe sein?“

      Julia zog sich die Mütze vom Kopf, umfasste damit den Schädel, holte ihn aus dem Loch und stellte ihn zwischen ihnen auf dem Boden. Dann legte sie sich auf den Bauch, griff mit beiden Händen in die Öffnung, die nicht sehr geräumig war, und tastete den Hohlraum ab. „Das Loch ist leer.“ Sie tastete noch ein weiteres Mal. Nein, kein Zweifel, das Loch war tatsächlich leer. „Was auch immer sich hier befunden hat - falls sich jemals etwas anderes darin befand als der Totenkopf - dann ist es nicht mehr da.“ Ernüchtert richtete sie sich wieder auf.

      „Tja, das war es dann wohl“, sagte Eva nicht weniger ernüchtert.

      Und das wäre es wohl tatsächlich gewesen, wenn Julia schon so weit gewesen wäre. Aber sie war noch nicht so weit. Sie griff noch einmal nach dem Totenkopf, hielt ihn in die Höhe und musterte ihn von allen Seiten. „Wir haben es bis hierher geschafft“, murmelte sie. „Da muss doch, verdammt noch mal …“ Sie brach ab und runzelte die Stirn. „Da ist was drin! Leuchte mal in den Kopf hinein, Eva.“

      Eva tat es mit äußerstem Widerwillen.

      „Da ist tatsächlich was drin!“ Julia fasste ins Innere des Kopfes, fummelte einen Moment lang darin herum, dann zog sie ein kleines Stück Papier heraus, das mit einem Klebestreifen an der Innenseite befestigt gewesen war.

      Es handelte sich um eine Nachricht. Und die übertraf all ihre Erwartungen: Julia, der Teufel sitzt uns im Nacken.

      „Was …?“, setzte Julia an.

       Begib dich in den Schoß der Familie und sieh, was Brüder dir tun können. Dann findest du die Antwort. S. G.

      7. KAPITEL

      Die unselige Ruhe vor dem Sturm

      Norwegen

      22:19 Uhr

      Susanne betrat das Arbeitszimmer und stellte fest, dass Edda sich nicht mehr darin aufhielt. Nach einigem Suchen fand sie sie in Jos Schlafzimmer, wo sie auf dem Boden saß und dessen Schubladen durchwühlte.

      „Ich dachte, du sitzt noch am Computer.“

      Edda sah auf und schüttelte den Kopf. „Nichts zu machen. Ich hab alles versucht. Und das bedeutet leider, erst einmal kein Internet mehr.“

      „Kannst du da denn wirklich gar nichts machen? Ich meine, du bist ein Genie, was diese Dinger betrifft …“

      „Das mag sein, aber was soll ich machen, wenn der Bildschirm schwarz ist? Ich kann fast alles mit dem Computer, ja, aber ich kann leider nicht zaubern.“ Edda konzentrierte sich auf einen Stapel Briefe.

      Susanne setzte sich neben sie auf den Boden. „Und was machst du jetzt?“

      „Ich suche.“

      „Okay. Und wonach?“

      „Keine Ahnung. Ich suche einfach. Ich spüre den überwältigenden Drang, irgendetwas zu tun. Etwas Zielführendes, etwas Sinnvolles. Etwas, das zumindest die Chance beinhaltet, herauszufinden, was Jo in den letzten beiden Tagen gemacht hat.“

      „Und du denkst, das hat er dir in einem Brief hinterlassen?“

      Edda überging diese Bemerkung. „Jo hat immer alles aufgehoben. Das hier sind die Briefe, die ich ihm als Teenager geschickt habe. Ich meine, sieh dir das an, der Mann hat gesammelt wie ein Eichhörnchen.“ Edda legte die Briefe zur Seite, stand auf und ging zum Kleiderschrank. Als sie ihn öffnete, drang ihnen ein angestaubter, aber vertrauter Geruch entgegen: nach Seife, nach Zigarettenrauch, nach Jo.

      Edda machte sich daran, seine Kleidung zu durchsuchen, und breitete deren Inhalt auf Jos Nachttisch aus. Ein paar Geldscheine, ein paar Münzen, ein Streichholzbriefchen, ein Haustürschlüssel und eine Tankquittung. An Letzterer blieb ihr Blick hängen. „Er war dort.“

      „Wo?“

      Edda hob die Tankquittung in die Höhe. „Er hat in Ålesund getankt.“

      „Wann?“

      „Vorgestern.“ Edda ballte die linke Hand zur Faust und reckte sie in die Höhe. „Ich wusste es! Ich wusste, dass er heimlich recherchiert hat. Sieh mal, hier hat er noch etwas auf die Ecke gekritzelt, aber es ist total unleserlich.“

      Susanne griff nach dem Beleg und betrachtete Jos krakelige Schrift. „Es könnte ein Name sein. Aber du hast recht, es ist total unleserlich. Könnte ‚Bekker‘ heißen. Könnte aber auch alles andere bedeuten.“

      „Bekker?“ Edda riss ihr die Quittung wieder aus der Hand. „Den Namen habe ich vorhin gelesen. Emil Bekker. Das ist ein Polizist. War damals ein Kollege von Claas Mok. Die beiden haben zusammen im Fall Sofie Dale ermittelt.“

      „Im Ernst?“

      „Ja. Wenn ich‘s doch sage.“

      Sie sahen sich an.

      „Jo hat auf eigene Faust recherchiert“, stellte Edda fest. „Ich wüsste keinen anderen Grund, warum er ausgerechnet in Ålesund gewesen sein sollte. Und keinen, warum er ausgerechnet den Namen Bekker auf die Quittung geschrieben hat.“ Sie machte sich daran, die restliche Kleidung zu durchsuchen, fand sonst aber nichts mehr. Während sie die Schranktür schloss, legte Susanne lauschend den Kopf zur Seite. „Sag mal, fällt dir was auf?“

      „Nein, was denn?“

      „Wie ruhig es auf einmal ist.“

      Edda verharrte und lauschte ebenfalls. „Ja, du hast recht. Auf einmal ist es vollkommen still. So gar kein Wind mehr.“

      „Weißt du, wie mir das vorkommt?“, sagte Susanne. „Wie die unselige Ruhe vor dem Sturm. Die Ruhe vor dem Sturm, von dem niemand weiß, wann er hereinbrechen wird.“

      „Ich wusste gar nicht, dass du eine so tiefenphilosophische Ader hast.“

      In nächsten Moment knarrten die Deckenbalken über ihnen. Gleichzeitig schien sich das Schlafzimmer einen Moment lang zu verdunkeln.

      „Was ist denn jetzt los?“, sagte Susanne leise.

      „Das ist nur das Wetter“, gab Edda zurück.

      Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als es einen lauten Schlag tat. Etwas über ihnen fiel krachend zu Boden. Es klang wie zerbrochenes Porzellan.

      Edda stürmte aus