Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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riskierte einen Seitenblick, jeweils nach links und rechts, wobei sie feststellte, dass beide Verfolger vollkommen still standen und die Szene misstrauisch beobachteten.

      Jetzt kam auch noch eine kräftige, resolute Frau heran. „Bleiben Sie ruhig liegen“, sagte sie zu Eva, die mittlerweile die Augen aufgeschlagen hatte. „Sie sind offenbar gestürzt. Haben Sie sich den Kopf angeschlagen?“

      Eva antwortete nicht, sah die Frau nur an.

      Und noch mehr neugierige Menschen blieben bei ihnen stehen.

      „Können Sie aufstehen?“, fragte die resolute Frau. „Einen Moment, ich helfe Ihnen.“

      Gemeinsam stellten sie Eva wieder auf die Füße, doch die begann sofort wieder zu schwanken. Jemand hielt es für das Beste, sofort einen Krankenwagen zu rufen, zog das Handy aus der Jackentasche und wählte.

      Wieder jemand anders brachte einen Becher Wasser.

      Ein paar Minuten später kamen zwei Sanitäter und Eva wurde auf eine Trage

      gelegt.

      Julia sah sich um.

      Die beiden Verfolger waren verschwunden.

      11. KAPITEL

      „Okay. Ich denke, wir haben jetzt genug geredet.“

      Hannover

      0:56 Uhr

      Julia kam es so vor, als hätten sie ewig gebraucht, um das Krankenhaus wieder zu verlassen - und zugleich waren nur ein paar Minuten verstrichen. Während sie durch die Straßen eilten, blickte sie immer wieder über die Schulter und vergewisserte sich, dass ihnen niemand folgte. Aber es folgte ihnen niemand mehr.

      „Sie sind also Julia Wagner“, sagte der Mann mit dem struppigen Vollbart. „Ich freue mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.“

      „Woher wissen Sie, wer ich bin?“

      „Oh, ich habe schon eine Menge über Sie gehört.“

      „Und von wem?“

      „Susanne Grimm.“

      Unvermittelt blieb Julia stehen. „Wer sind Sie?“

      „Bleiben Sie nicht stehen, gehen Sie weiter. Mein Name ist Karl Dickfeld, aber alle nennen mich nur ‚Professor‘. Wenn Sie wollen, können Sie das auch tun. Ich werde Ihnen gerne alles erklären, aber es wäre mir lieber, wenn wir es nicht auf der Straße tun würden. Kommen Sie, dort drüben ist ein Taxistand.“

      Julia blieb stehen, wo sie war, und er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Vertrauen Sie mir, Frau Wagner. Ich werde Ihnen alles erklären, aber zuerst brauchen wir ein Taxi. Mein Bus steht zu weit von hier entfernt. Gut einen Kilometer, auf jeden Fall zu weit, um die Strecke bei dem Wetter zu laufen. Jetzt kommen Sie.“ Er setzte sich wieder in Bewegung.

      Julia rührte sich immer noch nicht.

      Der Professor kam zu ihr zurück. Seine schweren Stiefel hinterließen tiefe Krater im Schnee. „Wenn Sie weiter hier draußen rumlaufen, werden Sie früher oder später umkommen. Das ist eine Tatsache. Sie haben ja gesehen, wie leicht man Ihnen folgen kann. Also bitte …“ Er legte eine Hand auf ihren Rücken und schob sie vorwärts. „Wirklich, Sie können mir vertrauen.“

      Kurz darauf öffnete er die vordere Tür eines Taxis und sah hinein. Drinnen saß ein Mann, der das Rentenalter schon lange überschritten hatte. Über einem dünnen Haarkranz trug er eine Baseballmütze mit dem Aufnäher eines Fußballvereins.

      „Gut, dass Sie fahren“, sagte der Professor erleichtert.

      Der Fahrer grunzte. „Ob es gut ist, werden wir erst noch sehen. Eigentlich dürfte ich bei dem Wetter gar nicht fahren.“

      „Nun, wir riskieren es.“

      „Komische Zeit, um eine Spazierfahrt zu machen“, bemerkte der Taxifahrer, während er den Motor startete. „Mitten in der Nacht.“

      „Möglich“, sagte der Professor, „aber wir leben ja auch in einer komischen Welt, nicht wahr?“ Er öffnete die hintere Tür und drehte sich zu Julia und Eva. „Steigen Sie ein.“

      Während der kurzen Fahrt schien das Wetter noch einmal schlimmer zu werden. In kleinen Tornados kam der Schnee vom Himmel herab, prallte gegen die Frontscheibe und wirbelte in den Lichtkegeln der Scheinwerfer.

      Zum Glück waren sie nicht lange unterwegs. Sie erreichten einen alten VW-Bus, an dessen linkem Scheibenwischer ein durchnässter Strafzettel klemmte. Der Professor stopfte ihn in seine Manteltasche und schloss die Fahrertür auf. Dann stieg er ein und öffnete die Beifahrertür. „Steigen Sie ein.“

      Julia warf Eva einen kurzen Blick zu, dann stieg sie vorne ein. Eva nahm auf einem der hinteren Sitze Platz.

      Der Professor lächelte und startete den Bus. „Willkommen an Bord. Lehnen Sie sich zurück und genießen Sie die Fahrt. In schätzungsweise zwanzig Minuten sind wir am Ziel.“

      „Wohin fahren wir?“, wollte Julia wissen.

      „Das werden Sie schon sehen.“

      „Jetzt hören Sie mal …!“

      „Wenn ich Ihnen alles erklärt habe, werden Sie es verstehen.“ Der Professor machte eine Bewegung mit der Hand. „Im Handschuhfach befindet sich ein trockenes Tuch. Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Fensterscheibe von innen trocken zu wischen?“

      Julia öffnete den Mund, sah es dann aber selbst ein. Von ihrem Atem waren die Scheiben beschlagen. Außer dem trüben Lichtkegel der Scheinwerfer war kaum etwas von der Straße zu erkennen. Also öffnete sie das Handschuhfach, und als sie das Tuch herauszog, fiel ihr eine leere kleine Cognacflasche in den Schoß.

      „Hoppla!“, machte der Professor. „Das ist ein Erinnerungsstück. Legen Sie es bitte zurück.“

      Julia steckte die Flasche zurück ins Handschuhfach und machte sich daran, die Innenscheiben mit dem Tuch zu trocknen. Als sie fertig war, reichte sie es an Eva weiter, die sich daranmachte, die hinteren Scheiben zu trocknen.

      „Vielen Dank“, sagte der Professor.

      „So.“ Julia verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann können Sie ja jetzt anfangen. Was haben Sie und Susanne miteinander zu tun?“

      „Hm, ja, also …“ Er kniff die Augen zusammen. „Die Kurzversion ist, dass wir, Frau Grimm und ich, vor zwei Tagen beinahe gleichzeitig über eine Leiche und somit quasi übereinander stolperten.“

      „Über was für eine Leiche?“

      „Oh, eine Dame, deren Name Ihnen bekannt sein dürfte: Britta Stark.“

      Julia blinzelte. „Britta Stark? Die Anwältin, die Susanne in der geschlossenen Psychiatrie auf mich hetzte?“

      „Genau die.“

      „Wer hat sie umgebracht?“

      „Die Kraniche.“

      Vor ihnen wurde eine Ampel rot. Der Professor bremste vorsichtig ab.

      „Und was ist dann passiert?“, fragte Julia weiter. „Wo ist Susanne jetzt?“

      „Das weiß ich leider nicht sicher. Als ich sie das letzte Mal sah, machte sie sich gerade auf die Suche nach Ihnen.“ Die Ampel wurde grün. Der Professor fuhr wieder an. „Aber sie hat Sie nicht gefunden“, redete er weiter. „Also hat sie die Kassette dorthin zurückgebracht, wo wir sie zuvor gemeinsam fanden. Das hat Frau Grimm mir bei unserem letzten Telefonat noch erzählt. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört.“

      Julia betrachtete den Professor aufmerksam. Er wirkte aufrichtig, aber konnte sie sich da wirklich sicher sein?

      Er räusperte sich. „Zuvor wurde ich angeschossen, von einem Mann namens Eduard Schiller. Ein Kranich. Ein fürchterlicher Mensch, widerlich. Er wollte unbedingt die Kassette haben. Fragen Sie mich nicht nach weiteren