Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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      Der Professor zuckte mit den Schultern. „Nichts. Die Geschichte ist hier zu Ende.“

      Julia schüttelte den Kopf. „Wohl noch nicht ganz. Denn offenbar haben Sie – im Gegensatz zu Susanne – die Suche nach mir ja nicht aufgegeben.“

      „Nun ja, ich war angeschossen, aber nicht traumatisiert, wie andere in meiner Situation es vielleicht gewesen wären. Ich habe angefangen nachzudenken. Bevor Frau Grimm in mein Leben trat, habe ich es damit verbracht, mich von morgens bis abends zu betrinken. Das aber hat sich inzwischen grundlegend geändert. Sie hat mich sozusagen ins Leben zurückgeholt.“ Der Professor zuckte mit den Schultern. „Die Geschichte ließ mich nicht los. Und so beschloss ich, auf Sie zu warten.“

      „Vor dem Haus von Susannes Bruder?“

      „Ja. So in etwa. Ich denke, die Kraniche haben dasselbe getan, allerdings ist mir niemand aufgefallen. Oh, sie sind verdammt gut.“

      „Und wohin fahren wir jetzt?“, wollte Julia wissen.

      Der Professor warf ihr einen kurzen Blick zu. „Nun ja, es wird Zeit, dass wir die Geschichte beenden, nicht wahr? Ich habe mich inzwischen mit der Kassette beschäftigt und mehr darüber herausgefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte. Es wird Sie erleuchten. Vertrauen Sie mir.“

      Vertrauen.

      Schon wieder.

      Der Professor parkte den Bus am Straßenrand und stellte den Motor ab. „Wir sind da. Kommen Sie mit.“

      Sie hetzten über eine Straße, auf ein großes, kastenartiges Gebäude zu und stiegen mehrere mit Schnee bedeckte Stufen hinauf. Der Professor klopfte gegen eine Glastür und ein Wachmann kam ihnen entgegen. Ein großer, kräftiger Mann in den Fünfzigern, mit breiten Schultern, dessen graue Uniform eine Nummer zu klein war.

      „Ja?“, fragte er nicht gerade freundlich durch die geschlossene Tür.

      „Wir möchten zu Herrn Eylenstein“, sagte der Professor.

      „Um diese Uhrzeit?“

      „Er erwartet mich.“

      „Das kann ich mir nicht vorstellen.“

      „Mein Name ist Dickfeld. Karl Dickfeld. Rufen Sie ihn bitte an.“

      Der Wachmann zögerte, griff dann aber doch nach seinem Handy, wartete, wechselte ein paar dürre Worte und sah den Professor dann wieder an. „In Ordnung.“ Er drückte auf einen Knopf und die Glastür schwang auf. „Er ist in seinem Büro.“ Mit dem Zeigefinger deutete er einen Flur entlang.

      „Danke“, sagte der Professor. Und an Julia gewandt: „Kommen Sie.“

      Sie gingen einen gefliesten Gang entlang, der sich irgendwo in der Ferne verlor. Von dort drang Licht aus einem Büro.

      Als sie es erreichten, sagte der Professor: „Hier ist es.“

      Neben der Tür war ein Namensschild angebracht, auf dem in silbernen Großbuchstaden Eylenstein stand.

      Der Professor klopfte an, und als eine Stimme von drinnen „Herein“ sagte, betraten sie einen einschüchternden Raum. Er war vollgestopft mit Büchern, die in mehreren bis zur Decke reichenden Regalen standen.

      Der Mann, von dem anzunehmen war, dass es sich um Eylenstein handelte, saß hinter einem Schreibtisch aus massiver Eiche und lächelte freundlich. Ein älterer Mann mit buschigen weißen Haaren. „Herr Dickfeld!“

      „Ja, ich bin es wieder“, sagte der Professor. „Und dieses Mal habe ich jemanden mitgebracht.“

      Eylenstein sah Julia an. „Ist das die junge Dame, über die wir sprachen?“

      „Ja.“

      Er erhob sich und reichte ihr die Hand.

      „Bis jetzt habe ich noch keine Ahnung, was ich hier soll“, sagte sie.

      „Das werden Sie sofort erfahren. Möchten Sie etwas trinken? Einen heißen Tee vielleicht?“

      „Nein danke.“

      Auch Eva schüttelte den Kopf.

      „Dann setzen Sie sich doch bitte.“

      Während Eva sich erschöpft auf einen der Stühle sinken ließ, die im Halbkreis vor dem Schreibtisch aufgestellt waren, sagte Julia: „Ich bleibe lieber stehen.“

      Eylenstein nickte und setzte sich ebenfalls wieder. „Haben Sie die Kassette inzwischen gefunden?“

      „Ja.“

      „Aber Sie haben sie noch nicht geöffnet.“

      „Nein. Es war noch keine Zeit dafür.“

      „Gut.“ Eylenstein nickte zufrieden. „Es könnte zu Ihrem Schaden sein, wenn Sie sie zu früh öffnen.“

      Julia ließ ihn nicht aus den Augen. „Was meinen Sie damit?“

      Er neigte etwas den Kopf. „Ich bin bereit, Ihnen wichtige Informationen darüber zu liefern, Frau Wagner, aber wenn ich es tue, müssen Sie im Gegenzug all Ihre rationalen Gewissheiten fallen lassen. Denn es mag in Ihren Ohren fantastisch und abwegig klingen, aber es geht hier um etwas, das nicht der Welt der Vernunft und der Ratio angehört.“

      Julia runzelte die Stirn. „Geht es um etwas Religiöses?“

      „Ich entnehme Ihrem Tonfall, dass Sie selbst nicht besonders religiös sind.“

      „Nein, nicht besonders.“

      Eylenstein nickte und verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch. „Nun, wenn Sie an keinen Gott glauben, dann glauben Sie auch nicht daran, dass es das Böse gibt, richtig?“

      „Oh nein, ganz im Gegenteil. An das Böse glaube ich unbedingt, denn ich habe es gesehen. Allerdings meine ich das menschliche Böse, keine Hölle, wie sie in Büchern beschrieben wird. Ich glaube auch an keinen Teufel mit Dreizack und gespaltenen Hufen, nur falls Sie darauf hinauswollen.“

      „Aber woher kommt das Böse, wenn nicht vom Teufel?“, wollte Eylenstein wissen. „Darüber müssen Sie nachdenken, Frau Wagner. Sie müssen über den Ursprung des Bösen nachdenken.“ Er beugte sich nach vorne und sah Julia in die Augen. „Weshalb, denken Sie, ist Jesus auf die Erde gekommen?“

      „Um die Menschen zu retten. So habe ich es jedenfalls gelernt.“

      „Richtig. Er kam, um uns zu retten. Um uns von unseren Sünden zu erlösen.“

      „Und?“

      „Und? Denken Sie nach, Frau Wagner. Wenn Jesus auf die Erde kam, um die Menschen zu erretten, was ist dann die logische Schlussfolgerung? Dass das Böse schon lange vor ihm da war.“ Eylenstein betrachtete Julia immer noch aufmerksam. „Das Wort ‚Satan‘ leitet sich übrigens von der hebräischen Wurzel ‚stn‘ ab und bedeutet so viel wie ‚der Widersacher‘ oder ‚der Widerwirker‘, und genau das ist es, womit wir es zu tun haben: Ein übernatürliches, mächtiges Wesen.“

      Julia atmete ungeduldig aus. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich dieses Gespräch führe …“

      „Es ist wichtig für den Kampf, den Sie führen“, wandte Eylenstein ein. „Je mehr Sie über Ihre Gegner wissen, desto besser können Sie sich gegen sie rüsten.“

      „Womit ich es hier zu tun habe, ist nichts Übersinnliches“, beharrte Julia. „Ich habe es mit realen Menschen zu tun. Mit verdammt bösen, aber auch verdammt realen Menschen.“

      „Nun, dass es Gut und Böse auf der Welt gibt, streiten Sie ja nicht ab. Richtig?“

      Julia nickte.

      „Aber es kann nicht beides gleichzeitig geben, Frau Wagner. Zwei Gegensätze können nicht nebeneinander existieren, es muss einer dem anderen weichen. Verstehen Sie?“

      Statt einer Antwort machte Julia eine unbestimmte Handbewegung.

      „Nur