Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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wie ein menschlicher Arm, der die Finger ausstreckte. Sie ging darauf zu und blieb davor stehen. „Du bist doch Biologin, Eva, was ist das für ein Baum?“

      „Richtig, ich bin Biologin.“ Eva trat zu ihr hin. „Keine Botanikerin. Aber das da ist ein Apfelbaum.“

      „Ist das nicht ungewöhnlich? Ein Apfelbaum auf einem Friedhof?“

      „Ja. Mag sein.“

      „Dann ist es das vielleicht.“

      Um sich warm zu halten, trat Eva von einem Bein auf das andere. „Du meinst, der Baum birgt einen Hinweis? Findest du das nicht ein bisschen weit hergeholt?“

      „Nicht weiter hergeholt als alle anderen Hinweise, die wir bisher bekamen.“ Julia streckte den Zeigefinger nach oben. „Sieh dir den Ast doch mal genauer an. Er sieht aus wie ein Arm mit Fingern. Und dieser Finger zeigt in Richtung der Kapelle.“

      „Also, ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich in diese Richtung zeigt.“

      „Wir sollten es uns wenigstens einmal ansehen. Komm.“ Julia war schon auf dem Weg. Bei der Kapelle angekommen, drehte sie sich noch einmal zu Eva um. „Jetzt komm. Was haben wir zu verlieren?“

      Eva murmelte etwas in den Wind und folgte ihr widerwillig.

      Im Inneren war es stockdunkel und eiskalt. Julia richtete den Strahl ihrer Taschenlampe geradeaus und sah Bänke, die in der Mitte standen, und einen kleinen Altar, der sich vor der gegenüberliegenden Wand befand. Rechts waren Gedenktafeln aus Stein, Gips oder Messing zu sehen, die teils in die Wände eingelassen waren, aber auch einen Großteil des Bodens bedeckten.

      Julia ging auf den Altar zu, Eva folgte ihr langsam.

      Dort angekommen, blieben sie stehen. Auf dem Boden befanden sich Steintafeln, die jedoch so abgewetzt waren, dass sie nur mühsam zu entziffern waren.

      Julia wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, als sie es schon wieder hörte: dieselbe Melodie, die sie bereits im Turm der Seelen gehört hatte. Doch dieses Mal tauchte gleichzeitig ein Bild vor ihren Augen auf: unzählige Hände, die nach ihrer Jacke griffen.

      „Julia!“, sagte Eva alarmiert. „Du blutest aus der Nase.“

      Die Musik wurde lauter und in der nächsten Sekunde überwältigte Julia ein Blitz. Immer noch griffen unzählige Hände nach ihr. Die Melodie verschwand, stattdessen breitete sich nun ein unregelmäßiges Kratzen in ihrem Kopf aus, so als würden Fingernägel über eine Tafel gezogen.

      Der Boden unter Julia begann sich zu bewegen. Das Kratzen wurde immer lauter und schließlich zu einem dröhnenden Donnern. Sie spürte, wie ihre Hände taub wurden und ihre Beine nachgaben. Sie sank auf die Knie und hielt sich den Kopf. Ein Bild tauchte vor ihren Augen auf: Sie sah sich selbst in Flammen stehen, ihr dunkles Haar brannte. Sie sah ihr eigenes Gesicht dahinschmelzen wie Wachs. Es warf Blasen und verflüssigte sich, bis es nicht mehr dem eines menschlichen Wesens ähnelte. Am Ende war es nur noch eine grässliche, verzerrte Fratze.

      Das Ganze dauerte höchstens fünfzehn Sekunden, dann kam Julia wieder zu sich. Sie hob den Kopf und erkannte Evas Gesicht, ganz dicht bei ihrem.

      „Bist du … Ist alles okay?“

      Julia hatte den Geschmack von Blut im Mund. Sie hatte sich auf die Lippe gebissen. Aber ihr Körper entspannte sich allmählich, das Herz schlug wieder langsamer. Was immer da gerade in ihrem Kopf gewesen war, es war wieder verschwunden. „Ja, es ist alles … okay.“ Ihre Stimme klang rau, fremd in ihren eigenen Ohren. „Alles … okay.“ Erst jetzt bemerkte sie, dass sie mit gespreizten Beinen auf dem Boden saß. „Ich bin einfach nur kurz vorm … Durchdrehen, das ist alles. Hast du … Hast du ein Taschentuch?“

      Eva reichte ihr eins und Julia hielt es sich unter die Nase.

      „Was ist gerade passiert?“

      „Ich habe mich selbst gesehen. In Flammen stehend. Ich bin regelrecht weggeschmolzen.“ Julia spürte, wie ihre Hände zitterten. „Ich befinde mich irgendwo zwischen Realität und Wahnsinn. Und es ist die Hölle.“

      „Wir kriegen das wieder hin“, sagte Eva.

      Julia ließ das Taschentuch sinken und sah sie an. „Nein, wir kriegen das nicht wieder hin, und das weißt du auch. Es wird immer schlimmer, mit jedem Tag. Mit jeder Minute. Es sitzt in meinem Kopf wie ein Tumor. Es breitet sich immer weiter aus. Es eitert. Es ist bösartig. Es …“

      „Hör auf!“, unterbrach Eva. „Wir haben deinen Kopf im Krankenhaus untersuchen lassen. Du hast keinen Tumor.“

      „Nein, das, was ich in meinem Kopf habe, ist viel schlimmer. Es ist der pure Wahnsinn. Ich werde verrückt und ich kann nichts dagegen tun.“

      „Julia, hör mir zu: Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist, etwas mit sich herumzutragen, von dem man nicht weiß, was es ist, aber wir kriegen das hin. Wir werden ein Gegenmittel finden. Wir …“

      „Wie sollen wir ein Gegenmittel finden, wenn wir noch nicht einmal wissen, was sich da in meinem Kopf befindet?“ Julias Blick war ernst. „Mein Vater hat mir damals ein Medikament injizieren lassen, irgendein Teufelszeug, das mich jetzt immer schizophrener macht. Ich höre und sehe Dinge, die es nicht gibt, die mir selbst aber völlig real erscheinen. Hast du schon wieder vergessen, dass ich dich vor drei Tagen um ein Haar erschossen hätte?“

      „Du hast nicht mit Absicht auf mich gezielt.“

      „Natürlich nicht. Aber das macht es nicht besser. Ich war mir in dem Moment sicher, dass du der Zaren bist. Ich war mir sicher, verstehst du?“ Julia senkte den Blick und starrte auf den Boden. „Wir wissen beide nicht, wie lange es noch dauert, bis ich endgültig durchdrehe, und es nützt nichts, wenn wir davor die Augen verschließen.“ Mühsam erhob sie sich vom Boden. „Und deshalb sollte ich die Zeit nutzen, die ich noch habe. Wir haben schon genug davon verloren.“ Sie streckte eine Hand gegen die Wand, um sich abzustützen.

      „Möchtest du nicht lieber noch einen Augenblick sitzen bleiben?“, fragte Eva besorgt.

      „Nein. Wir müssen weitermachen.“ Julia versuchte, den Blick zu fokussieren. Es gelang ihr kaum. Die Kapelle um sie herum schien sich immer wieder zu verschieben. Ein paar Sekunden hielt sie den Atem an, biss die Zähne zusammen, dann wurde ihr Blick wieder klarer. „Wir müssen uns konzentrieren, Eva. Irgendwo hier muss sich die Kassette befinden. Bitte, hilf mir.“

      Eva nickte und sah sich um. „Vielleicht die Steintafel dort drüben.“ Sie setzte sich in Bewegung und ging auf mehrere Klappstühle zu, die aufeinandergeschichtet waren. Darunter befand sich eine abgewetzte Steintafel, die in den Boden eingelassen war. „Sie befindet sich abseits von den anderen. Vielleicht hat das etwas zu bedeuten. Hilf mir mal.“

      Gemeinsam schoben sie die Stühle beiseite.

      Dann ging Julia in die Hocke und stellte fest, dass die Platte keinen Namen trug, in der Mitte eingesunken und eine Ecke zersprungen war. „Hier“, sagte sie und legte den Zeigefinger auf den Stein. „Das ist doch ein X, oder nicht?“

      Eva kniete sich neben ihr auf den Boden. „Ja. Tatsächlich.“

      „Wir müssen versuchen, den Stein hochzuheben. Hilf mir.“

      Sie taten ihr Bestes, aber da war nichts zu machen. Der Stein rührte sich keinen Millimeter.

      „Das schaffen wir nicht!“, sagte Eva mit hochrotem Kopf. „Der ist wie festgewachsen.“

      „Komm schon!“ Julia presste die Zähne zusammen. „Versuchen wir es noch einmal.“

      Sie gaben wirklich alles. Aber nein, es war nichts zu machen. Sie schafften es nicht.

      „Wir brauchen einen anderen Plan“, schnaufte Eva ernüchtert. „Sollte der Stein hier tatsächlich unser Ziel sein, dann muss es eine andere Möglichkeit geben, die Platte anzuheben. Allerdings sehe ich keine andere Möglichkeit. Es sei denn, du schaffst schweres Gerät hierher.“

      Julia drehte sich einmal um die