Melancholie machte sich in Francos Gesicht breit, als er endlich zum Nachdenken kam und den Tag Revue passieren ließ. Wegen der eben geführten Gespräche hatte er das Konzert in der Frankfurter Festhalle vorzeitig verlassen müssen. Die Ereignisse ließen ihm keine andere Wahl. Wann hört dieser Wahnsinn nur auf?, fragte sich der sensible Italiener, der seinen ganzen Schmerz mit Arbeit zu ersticken versuchte. Es blieb ein kläglicher Versuch, dessen war er sich bewusst. Auch, dass er nun schon seit fast zwei Jahren beständig vor sich selbst wegrannte. Das war schwach und Franco wusste das nur zu gut. Ebenfalls ein Wegrennen vor sich selbst war sein Job als Manager in Vaters Konzern. Aber wer kann schon über seinen Schatten springen? Noch dazu, wenn der Schatten immer länger wurde? Franco Mignello war verzweifelt ob der für ihn ausweglos erscheinenden Situation. Jeden Tag musste er mit ansehen, wie sich Stella in neue Männergeschichten verstrickte. Wie sehr litt er unter der unerträglichen, ihn mehr und mehr belastenden Situation. Dazu ihre sträflich dilettantische, unvorsichtige Umgangsweise mit dem Verbrechen! Sie erkannte menschliches Fehlverhalten sofort. Gut so. Doch dann ging sie, ohne nachzudenken, wie ein Stier, direkt auf das Übel los. Wenn er mit seiner Power und der Hilfe von Freunden nicht ständig versuchen würde, sie aus der Schusslinie zu nehmen – im wahrsten Sinne des Wortes – wäre sie sicher längst tot.
Und von all dem, was er für sie tat, wie er sie beschützte, ahnte Stella nicht einmal das Geringste ...
Wie kompliziert ist doch die Welt, seufzte Franco in sich hinein.
Anonymous 1
„Was meinst du, hier 666, Nr. elfeinundzwanzig: Haben wir das Ding im Griff oder nicht?“
„Auf jeden Fall, 666, Nr. achtzehnviervier ist das Experiment gelungen, wuerde ich sagen. Wir koennen stolz sein. Etwas Besseres konnte uns gar nicht passieren. Das Ding passt einfach fuer unser Experiment. Genial. Physisch sehr gesund. Stark, athletisch. Das kann ´was aushalten. Mach dir deswegen keine Gedanken.“
„Wenn du meinst. Ich haette gedacht, wir sollten noch am XP-Teil etwas nachbessern. Bekommen wir das von aussen hin, was denkst du?“
„Glaube ich nicht. Dazu muessten wir es noch mal in die Finger bekommen und versuchen, es an den Korrektor zu haengen. Das wird schwer werden. Das Programm ist gut. Sehr gut. Besser als alles andere, was die Kollegen in den USA in den naechsten Jahren entwickeln werden. Darauf kannst du dich verlassen. Ich bin mir da absolut sicher. Es wird uns das liefern, was wir wollen. Das dauert gar nicht lange!“
„Ich weiss, was wir gemacht haben, ist eine wissenschaftliche Sensation. Das kann man, ganz nuechtern betrachtet, wohl so sagen. Letztlich bleibt die Frage der korrekten, kompletten Kontrolle. Die liegt bei uns und wir muessen trotz aller Euphorie sehr darauf achten, dass sie uns nicht entgleitet. Ich moechte auch vorschlagen, dass wir die Software noch einmal bearbeiten und speziell im XP-Sektor angleichen, wo Fehler auftauchen koennten.“
„Einverstanden. Eine zusaetzliche interne Firewall kann nicht schaden, um uns Abweichungen sofort anzuzeigen und dort Schäden zu vermeiden.“
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IV
JEDES MAKROKOSMISCHE WALTUNGSAMT HAT SEINE
MIKROKOSMISCHE ENTSPRECHUNG IN JEDEM MOLEKÜL,
JEDEM KRISTALL, JEDER PFLANZE, JEDEM TIER
UND JEDEM MENSCH;
ES MÜSSEN DAHER AUCH FÜR DIE
MIKROKOSMISCHE ENTSPRECHUNG
DIESELBEN FÜNF KÖNIGSGEWALTEN MASSGEBEND SEIN,
DIE IN DER MAKROKOSMISCHEN ANORDNUNG
ZU DEM BETREFFENDEN WALTUNGSAMT
IM GEGENSEITIGKEITSVERHÄLTNIS STEHEN.
>Brisinga-Halsband-Mythe<, Dr. Ing. Emil Rüdiger, Dipl. Ing André Uebele
Frankfurt a.M., nach dem Konzert.
Eine ahnungslose Stella ...
Stella Henderson wusste nichts, rein gar nichts von ihrem weltweit intensivsten und auf jeden Fall am besten über ihren Alltag informierten Fan. Franco war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn jemals bewusst wahrgenommen hatte. Seit nunmehr vierhundertelf Tagen reiste er Stella schon hinterher. Egal was Stella machte, ob sie in TV-Shows auftrat, ihren Urlaub auf den Malediven genoss, im Criteria Recording Studio in Miami stand, um einen neuen Song aufzunehmen, oder, wie augenblicklich, seit zweihundertzweiundfünfzig Tagen ununterbrochen auf weltweiter Tournee war.
Franco, ihr stiller, heimlicher und unaufdringlicher Begleiter, befand sich meist in ihrer unmittelbaren Nähe. Der Italiener war Stalker und Antistalker in einer Person.
Ein Schatten der Liebe. Ein Schatten, der liebte.
Da Franco finanziell unabhängig war, fehlten ihm nur ganze siebenundvierzig Tage von den vierhundertelf, die Stella auf Tournee war, an denen er nicht rund um die Uhr in ihrer Nähe sein konnte. An dreihundertvierundsechzig Tagen, einem ganzen Jahr, war er seiner platonischen Liebe so wahnsinnig nah, dass sie ihn hätte spüren müssen, wenn sie über ein feinnerviges Seelenleben verfügte, was Franco zwar sehnlichst hoffte, letztlich jedoch nicht wusste und das auch noch nicht einschätzen konnte. Er fragte sich, ob sie, die Seelenverwandte, die sie sein könnte – das war seine stille Hoffnung – ebenso wie er Rupert Sheldrakes >Seven Experiments That Could Change The World< gelesen hatte. Dann wüsste sie von der Ausdehnung des Geistes, die weit über den eigenen Körper hinausgeht. Von der realen Möglichkeit zu wissen, dass eine Person genau in dieser Sekunde an einen bestimmten Menschen denkt und der Mensch das unmissverständlich fühlt, der das einfach weiß und sich dessen zu einhundert Prozent sicher ist.
Wie stark war der Einfluss von Gleichem auf Gleiches über Raum und Zeit?
Der Prozess der morphischen Resonanz nach Sheldrake, der die kosmische Ordnung mit einer Art Übergedächtnis vorgibt, die für alle Formen des Lebens zwingend ist, vom einfachsten Ordnungsfeld bis zum komplexen Charakter von Systemen. Franco, der sensible Schöngeist, war sich sicher, dass er seinen Geist zu ihr schicken konnte. Seine Gefühle. Sein Ich. Das musste sie spüren. Dessen war er sich sogar fast traumwandlerisch sicher und diese innere Sicherheit gab ihm die Kraft, die er benötigte, um die für ihn schwere Zeit der dreihundertvierundsechzig Tage zu überstehen. Da er bisher mit Stella keinerlei persönlichen Kontakt pflegte, musste die Bestätigung seiner These und die Antworten auf seine brennenden Fragen warten ...
Die fehlenden siebenundvierzig Tage, in denen er nicht direkt in ihrer Nähe war, hatte er in seinem Kalender schwarz angestrichen. Denn ein Tag, an dem Franco Stella nicht sehen und dadurch auch physisch nicht intensiv spüren konnte, ihre Aura in sich aufnehmen, sich an ihr erfrischen durfte, war für den jungen Mann aus der Toscana ein total verlorener Tag.
Aber die Tage, die in seinem Kalender schwarz trugen, entpuppten sich bei näherem Hinsehen als die Tage, die dennoch in einer besonders intensiven, fast mystischen Verbindung zu Stella standen. Wenn Stella übersinnliche Kräfte in sich trug – und daran glaubte Mignello junior fest, da er ihre Zahlen nach der Kabbala studiert und ausgewertet hatte –, sich ebenfalls mit Cheiros >Book Of Numbers< eingehend beschäftigt hatte, würden ihr, wenn das Schicksal es je zuließ, retrospektiv viele Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Dann würde sich auch ihr kompliziertes und verworren erscheinendes Lebenspuzzle auflösen können.
Wir sind alle das Ergebnis
unserer ganz spezifischen Energieströme,
die in direktem Zusammenhang
mit allen uns erreichenden
Energieströmen des Kosmos stehen.
Gewisse Situationen, die für Stella Henderson in den vergangenen zwei Jahren zu ihrem normalen und arbeitsintensiven Alltag gehört hatten, bekamen bei genauerer Betrachtung eine völlig andere Gewichtung. Stella fehlten jedoch die