Der Staatssekretär sah heute verdammt gut aus.
Rudolf Meerbold war ungemein wandlungsfähig. Ein Mann, der wirklich in jede Rolle schlüpfen konnte. Deshalb war er für viele Menschen beiderlei Geschlechts und beinahe jeden Alters auf seine Weise äußerst attraktiv, interessant oder auch abstoßend, wenn Meerbold es so wollte. Mit seinen 42 Jahren hatte er immens viele Typen gelebt.
Nein, nicht gespielt: gelebt.
Manchmal war er sich seiner Ausstrahlung selber nicht mehr bewusst, konnte kaum noch zwischen dem echten und dem gespielten Meerbold, zwischen Wirklichkeit und Fassade unterscheiden. Alle Ich´s, die er verkörperte, machten ihm großen Spaß. Der devote Kriecher, der weltoffene Geschäftsmann, der elegante und immer liebenswerte und zuvorkommende, höfliche Ehemann, der großartige, durchtrainierte Golfer, der mondäne Dandy, der biedere, dennoch karrierebewusste amtstreue, intelligente und jeder Regierung devot dienende Beamte. Der arrogante Topstar im Amt, wenn er in Brüssel mit seinen europäischen Kollegen verhandelte. Meerbold, der Geheimnisvolle. Das Chamäleon vom Dienst.
Diese geniale Wandlungsfähigkeit benutzte er schonungslos, seit er sie mit fünfzehn Jahren entdeckt hatte. Das hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er heute ist: Ein geschätzter, von den Kollegen aller Fraktionen geradezu vergötterter, Staatssekretär, dem jeder zutraute, bald im Kabinett einen ihm angemessenen Ministerposten zu bekleiden. Der bessere von Guttenberg. Egal, bei welcher Partei, denn Meerbold war parteilos. So früh im Leben wollte er sich politisch nicht binden, obwohl für ihn außer Frage stand, dass er seine politische Karriere fortsetzen würde und fest daran glaubte, dass Großes, ganz Großes in ihm stecke. Erster Kanzler der Europäischen Union! Das Amt strebte er an und glaubte auch zu wissen, wie er das erreichen kann ...
Von dem virilen Staatssekretär, unauffällig elegant, höflich, ein verbindliches Lächeln mit zu jedem politischen Thema passenden Spruch auf den Lippen, fachlich einfach nicht zu erschüttern, von diesem coolen Staatssekretärsgesicht zeigte er heute Abend wenig. Meerbold war für das für ihn so wichtige Konzert absolut überzeugend in die Rolle des totalen Rockfans geschlüpft: Die enge Joop-Jeans – schwarz, ölgetaucht, verwaschen – saß perfekt auf einem perfekten Hintern, mit dem er für Calvin Klein Underwear hätte Werbung machen können. Das ebenfalls schwarze T-Shirt stammte von der US-Tour der Stones des Jahres 2006/2007. Da man damals munkelte, dass es die letzte, die wirklich allerletzte Tour Mick Jaggers & Co. sein sollte, hatte er sich das Shirt über Ebay besorgt, bevor die Altherrenriege nach Europa gekommen war. Intuitiv gekauft für den heutigen Abend, von dem er damals noch nicht ahnte, dass es ihn geben könne und dass das T-Shirt von besonderer Bedeutung sein würde ...
Die Rock-Swatch passte zum Outfit. Die leicht abgelatschten, aber dennoch gepflegten Stiefel, natürlich schwarz, Saffian-Leder, Handarbeit, ebenso. Wenngleich für den Anlass einen Tick zu edel und teuer. Aber das sah nur jemand mit Kennerblick. Das schwarze Sakko, feinstes Leinen, Armani, war vielleicht auch eine Spur zu elegant. Aber was soll´s: Rockfans gibt es heute in jedem Alter, in jeder Einkommensschicht, weiblich, männlich, sächlich. Das dunkelblonde, glatte Haar, das er ohnehin etwas länger trug, umrahmte sein charismatisches Haupt locker und federnd. Die ganze Erscheinung erinnerte ein wenig an den jungen Don Johnson, als der einst vor gefühlten Jahrhunderten in der US-Krimi-Serie Miami Vice den Polypen-Dandy spielen durfte. Mann trug die Haare heute wieder so, wenn man auf sich hielt und um die Dreißig war.
Meerbold sah extrem gut aus. Brad Pitt in seinen besten Jahren. Extrem blau die Augen. Extrem lässig, extrem sympathisch, extrem rhythmisch, dieser Pfau. Eine Spur zu glatt, eher aalglatt, und, wenn es jemandem gelang, hinter die Fassade zu schauen, war eine ständige innere Unruhe, Nervosität in seinen Augen, in seinem Atmen zu spüren. Die Lippen konnten sehr schnell hart und schmal werden, die Hände verkrampften binnen Millisekunden, knöchelweiß. Doch so sahen Meerbold nur wenige Menschen. Schon gar nicht hier und heute würde einer den Unsympathen im Sympathen erkennen. Seine 1,87 Meter kamen durch die schmalen Jeans, die hochhackigen Stiefel und das schwarze Outfit noch besser zur Geltung. Wen wundert es, dass er, seit er vor wenigen Stunden die Halle betreten hatte, von vielen Girls und jungen Frauen bewundernde, ja auffordernde, wenn nicht ziemlich eindeutige Blicke zugeworfen bekam. Dreizehn kleine Flirts, nur mit den Augen geführt, die ihm sagten, dass er heute Nacht jede Menge One-Night-Stands hätte durchziehen können. Das registrierte sein – noch – fehlerfrei arbeitendes Gehirn ... Und war eine Bestätigung dafür, dass er seine Rolle richtig spielte. Oder war d a s der wahre Meerbold? Sahen wir heute Abend das echte, wahre Gesicht des Mannes, der morgen der deutschen Raute-Kanzlerin, der immer lächelnden Sprechblase mit den gestanzten, pathetischen Worthülsen und dem zu kurzen Jäckchen über gut gepolstertem Hinterteil, wieder mit gutem Rat und frischer Tat zur Seite stehen würde?
Gerne hätte Meerbold in der Jahrhunderthalle hier und da zugegriffen. Eine Nacht mit einer fast unberührten, von der Mutter begleiteten, naiven Sechzehnjährigen konnte ungeahnte Reize haben, wie Rudolf, der Lässige, nur zu gut wusste. Oder mit einer voll bekifften Endzwanzigerin, die ihren Typen draußen warten hat, und die ihm auf der Damentoilette so zwischendurch schnell mal einen bläst.
Egal, sagte er sich, scheiß auf den Staatssekretär. Heute greife ich mir was Besseres. Heute lebe ich für Stella. Nur für Stella Henderson. Und der Teufel müsste mich davon abhalten, sie nicht zu beglücken. Denn er ging davon aus, dass sein Rendezvous nicht nur stattfinden, sondern dass er der Lady total imponieren könne und sie, keine Frage, ins Bett abschleppen würde.
In den Minuten des Beifallsrausches, der Stella noch immer umgab, ließ Meerbold das relativ wenige Substanzielle, was er über die neue Königin des Rock wusste, Revue passieren.
Die Berichte der Yellow-Press und die Interviews der letzten Jahre im >Rolling Stone< hatte er alle gelesen. Meist war das Geschriebene seicht, deutete zwar einiges aus ihrem Privatleben an, ging oberflächlich auf ihre geniale Musik ein, streifte Affären aber nur am Rande. Er kannte die gängigen Klischees über sie in- und auswendig. Meerbold war regelmäßiger Gast bei Google, um nichts Neues über sie zu verpassen. Nach allem was er zwischen den Zeilen in den Berichten und Interviews über Stella Henderson gelesen, im TV gesehen hatte, entsprach sie genau dem Typus Frau, den er sich für diese besondere Nacht wünschte. Das war das für ihn Entscheidende. Alles andere Nebensache. Stella kann sich gut tarnen. Wie ich, genau wie ich – redete sich Meerbold seit Jahren ein. Denn dass sie sich tarnte, etwas zu verbergen hatte, dessen war er sich sicher. Immer wieder gab es Gerüchte um Stella, ihre Neigungen, ihre Sexualität, ihre Liebschaften. Man weiß, dass an Gerüchten meist ein Körnchen Wahres ist. Da waren zum Beispiel ihre immer schärfer werdenden, einen Mann wie Meerbold aufgeilenden Musik-Clips, die er sich von MTV mitgeschnitten hatte. Die Dreiminuten-Filmchen lebten von Anspielungen; ihre Erotik blieb unterschwellig. Weitaus differenzierter, intelligenter und letztlich aufreizender als die provokanten, sofort durchschaubaren und an der Oberfläche bleibenden Clips von Madonna oder die optisch voluminösen, fantasievollen und direkt auf Hol-dir-einen-runter getrimmten Videos von Lady Gaga und Rihanna. Aber für ihn, den Fachmann in Sachen Erotik, waren die von Stella gedrehten Clips dennoch eindeutig. Eindeutig erotisch, und das auf eine ganz bestimmte, nur schwer zu beschreibende Art. Dafür musste man einen sexten Sinn haben.
Meerbold hatte ihn. Zumindest das sei ihm attestiert.
Wie oft war Rudolf Meerbold nachts noch einmal aufgestanden, hatte zu seiner gewiss nicht prüden Frau gesagt, dass er noch einige Akten durchsehen müsse, damit er für die Debatte im Hohen Haus gut präpariert sei, um sich erst eine fette line zu legen und dann genüsslich einen Videoclip von Stella anzusehen.
„Freak Out“, „Tell Me Your Dream“, „What A Big Ahhh ...” waren seine favourites. Er sah sich in den