Lord Medway warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Was fragen Sie da, Mr Turnquist? Begraben Sie bitte diesen Gedanken gleich und für immer! Vorurteile gegen die neureiche Bourgeoisie sind in diesem Fall fehl am Platz. Die Zeiten ändern sich. Mein zukünftiger Schwiegersohn ist ein ehrenhafter Mann. Warum sollte er hinter Geld her sein? Er hat mehr davon als wir! Nennen Sie mir einen einzigen Vorteil, den er von der Verbindung hat!«
Ein Hustenanfall unterbrach Lord Medways Rede. Mr Turnquist blickte ihn besorgt an.
»Ich wollte Sie nicht in Unruhe versetzen, Mylord. Sie wissen, Anwälte sind misstrauisch und drehen gerne jeden Stein um.«
»Aus dieser Verbindung hat die Argyle-Familie nur Nachteile, Mr Turnquist«, fuhr der Lord fort, als sein Husten vorbei war. »Es ist reine Liebe. Eine solche Anhänglichkeit einer Frau gegenüber habe ich selten bei einem jungen Mann gesehen. Vor allem nicht bei einem, der aus dem Geschäftsviertel Londons kommt.«
Mr Turnquist lehnte seinen Stock an die Bank, verschränkte die Arme und starrte brütend auf den Teich. Eine leichte Brise wehte durch die herunterhängenden Äste der Weide, die sich beugten und die Wasseroberfläche streichelten. Die beiden Männer folgten mit ihren Augen dem Flug einer Libelle, die ihre Kreise um das Schilf am Ufer zog; ihre Flügel glitzerten in der Sonne.
»Verzeihen Sie mir, Mylord.« Mr Turnquist unterbrach endlich das Schweigen. »Vorurteile sind seltsame Gesellen. Manchmal muss man sie einfach ablegen.«
»Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wäre Hubertus in der Woche nach Susannes Tod nicht zufällig bei uns zu Gast gewesen«, antwortete Lord Medway. »Seine Nähe hatte so eine beruhigende Wirkung auf Jasmin wie nichts anderes. Ja, es ging schnell. Aber wer hat heutzutage schon Zeit, die Tragfähigkeit jeder Lebensentscheidung zu prüfen? Manchmal muss man einfach vertrauen. Aufrichtigkeit geht vor Adel, und der Mann ist aufrichtig.«
Mr Turnquist nickte.
»Ich stimme Ihnen zu, Mylord, dass der Gesellschaftsstand nicht das Entscheidende ist.«
»Sehen Sie, Mr Turnquist, das Schicksal ereilte uns, bevor wir unsere Tochter in die feine Gesellschaft Londons einführen konnten, um den Heiratsmarkt zu begutachten. Familienausflüge nach Covent Garden zu Theaterbesuchen, Ballabenden, Konzerten mit den neuesten Werken von Brahms und Mendelssohn oder auch Musikunterricht und Teegesellschaften mit Kartenspielen bei uns hier – das war alles ein Luxus, den wir uns durch die Krankheit meiner Frau nicht leisten konnten.«
Der alte Mann machte Anstalten, sich zu erheben. Mr Turnquist sprang auf, griff nach seinem Stock und bot seinem Begleiter den Arm. Langsam schlenderten sie, ohne zu reden, zurück zum Haus. Bevor sie den Eingang erreichten, hielt Lord Medway an und wandte sich zum Anwalt.
»Mein lieber Mr Turnquist, womit habe ich solch einen treuen Freund wie Sie verdient? Auch Sie haben keine Vorteile von Ihrer Freundschaft zu uns.«
»Wenn ich Vorteile suchen würde, wäre es keine Freundschaft, Mylord.«
»Und dennoch sind Sie da, immer wenn wir in Not sind. Sie werden auch weiterhin auf meine Tochter aufpassen, das weiß ich. Wie kann ich Ihnen das jemals zurückerstatten?«
»Das haben Sie, wieder und immer wieder, Mylord. Vergessen Sie nicht, dass auch ich eine Ehefrau und ein Kind verloren habe. Gemeinsame Schicksale schaffen eine tiefe Verbundenheit.«
Lord Medway drückte seinen Arm.
»Ich wünsche dem jungen Paar alles Glück der Welt«, sagte Mr Turnquist, als sie die Haustür erreicht hatten. »Ich will fest darauf vertrauen, dass der Charme des jungen Mannes anhält. ›Bis der Tod uns scheidet‹, das kann unter Umständen eine lange Zeit werden!«
»Sie bleiben doch noch eine Weile und nehmen mit mir zusammen eine Mahlzeit ein, Mr Turnquist?«
»Mit Vergnügen«, sagte der Anwalt.
Das Donnern von Pferdehufen, das Klirren von Metall, das Rattern von Rädern auf dem Kopfsteinpflaster, die schwankenden Bewegungen der Kutsche – es war Jasmin zunächst, als ob sie schon immer auf der Fahrt nach London gewesen wäre, als ob Kebworth, die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit und die Sorglosigkeit ihrer frühen Jugend nur ein Traum gewesen wären. Je mehr die friedliche Idylle ländlicher Dörfer den Backsteinhäusern der Londoner Vororte wich, desto launischer wurde Jasmins Stimmung. Es war mittlerweile der dritte Tag ihrer Reise.
Zwei Nächte lang hatte sie in fremden Betten unruhig geschlafen. In den Wirthäusern war es wie im Taubenschlag zugegangen. Selbst in den abgelegenen Räumen, die Adam für Jasmin besorgt hatte, waren die Rufe der anreisenden Kutscher, das Wiehern der Pferde, das Getrampel der Knechte und, später am Abend, das laute Gejohle der Betrunkenen zu hören gewesen. Nancy hatte sich sehr darum bemüht, jedes Bedürfnis ihrer Herrin vorauszusehen, aber ihre dauerhafte Nähe ging Jasmin auf die Nerven. Das anfängliche Gefühl der Freiheit und der Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Liebhaber war längst vorbei. Inzwischen plagten sie Zweifel, ob ihre hitzköpfige Entscheidung richtig gewesen war. Sie hätte Hubertus von ihrem Vorhaben in Kenntnis setzen sollen. Vielleicht würde ihr Besuch ihm ungelegen kommen, vielleicht war er doch nicht in London. Würde er sie überhaupt sehen wollen? Warum hatte sie nicht alles gründlicher durchdacht, auf Gilbert gehört, gewartet, bis Ellen nach Kebworth zurückkehrte, und sie gebeten mitzufahren?
Adam war angespannt und mürrisch geworden. Immer wieder fragte er, ob ihr Vater wirklich zugestimmt hätte, dass sie nach London reist. Sie log ihn an, wohl nicht sehr überzeugend. Eine Lüge im eigentlichen Sinn war es nicht, redete sie sich ein, nur nicht die ganze Wahrheit. Dass ihr Vater über ihre Pläne, nach London zu reisen, benachrichtigt wurde, dieser Teil stimmte. Sie hatte jedoch verschwiegen, dass ihr Vater keine Zeit gehabt hatte, darauf zu reagieren, und dass sie ihm außerdem den eigentlichen Grund nicht genannt hatte, warum sie fahren wollte. So musste er annehmen, dass es wegen Hochzeitsangelegenheiten war, und darüber war er zwar sicher nicht glücklich, aber wie immer nachsichtig und vertrauensvoll. Nun plagte sie ein schlechtes Gewissen. Was, wenn Adam ihretwillen bei seiner Heimkehr auf unbequeme Fragen antworten müsste?
Sie würde Hubertus fragen, was sie tun solle. Er könnte ihrem Vater einen Brief schreiben, ihm versichern, dass alles rechtens sei, Nancy sei als Begleiterin bei der Reise dabei. Hubertus hatte schließlich nicht nur Jasmins Herz, sondern auch das Herz von Lord Devreux wie im Sturm erobert. So würde alles gut gehen. Sie schloss die Augen, ließ ihren erschöpften Gedanken freien Lauf und schlief ein.
Mit einem Ruck wachte sie auf. Sie tastete fieberhaft im Dunkeln nach einem Taschentuch, um den Schweiß von ihrem glühenden Gesicht zu wischen. Ihre Finger streiften eine Wasserflasche, die neben ihr auf dem Sitz stand. Mit zitternden Fingern nahm sie den Korken ab und kippte das kühle Nass in ihren trockenen Hals. Sie hatte wieder geträumt, neue Einzelheiten gesehen. Dieses Mal stand ihre Mutter nur einen Steinwurf von ihr entfernt. Der Wind peitschte um sie, griff nach dem weißen Stoff ihres Nachthemdes und füllte ihn wie das Segel eines Schiffes. Sie wippte hin und her und blickte mit glasigen Augen hinunter in den Abgrund. Jasmin kauerte auf einem Felsen am Hang unter der Brücke und konnte direkt in die Augen ihrer Mutter schauen. So nah war sie bisher noch nie bei ihrer Mutter gewesen.
»Mama, nein!«, schrie sie. Aber es kam kein Laut aus ihrem Mund. Sie kroch auf allen vieren auf die Brücke, versuchte, nach den Beinen ihrer Mutter zu greifen, aber ihre Arme griffen ins Leere. War es nur ein Gespenst? Auf einmal spürte sie, wie eine Hand ihren Arm festhielt. Wie eine Kralle. Das war ganz und gar kein Gespenst. Jemand hechelte neben ihrem Kopf, sie fühlte feuchte Atemstöße auf ihrem Gesicht, die nach Alkohol und Schweiß rochen. Sie wollte nach Hilfe schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Zwei feste Hände drückten ihr den Hals zu wie mit einer Klammer. Sie rang nach Luft, kämpfte, würgte, zwei Arme stießen sie zu Boden. Jemand hielt eine Laterne hoch. Mit Mühe drehte sie ihren Kopf