»Sie wird Ihren Koffer schnell fertig machen, dann fahren wir los. Alles in Ordnung, Mylady?«
»Selbstverständlich, Adam. Mein Gesicht ist nur vom Treppenlaufen rot, und ich bin leicht unpässlich, das ist alles.«
Jasmin wusste, dass Adam ihr kein Wort glaubte, aber es war ihr gleich. Hauptsache weg von hier. Sie brauchte die Ungestörtheit der Kutsche, um ihre aufgewühlte Seele wieder zur Ruhe zu bringen. Danach konnte sie überlegen, wie sie ihren schrecklichen Fehltritt am besten wiedergutmachen und welche Erklärung sie Hubertus geben konnte.
»Jasmin! Warte!«
Als Hubertus Argyle atemlos aus der Tür eilte, die Außentreppe zur Straße hinuntersprang, anhielt und nach rechts und links blickte, war die Kutsche der Familie Devreux gerade um die Ecke verschwunden. Eine Stunde später rüttelte sie schon durch die Londoner Vorworte Ealing und Harrow Richtung Norden.
3
Kein Adliger, der bei Sinnen war, baute ein Herrenhaus im Umfeld des Wommeslocker Tals. Wommeslock war eine lang gezogene Schlucht, die an einem ihrer nördlichsten Punkte eine tiefe Furche durch die Bergkette der Penninen zog. Selbst auf den obersten Hängen bot der saure Boden nur den hartnäckigsten Arten von Heidekraut, Torfmoos und Farn Nahrung. In der Talsohle sammelte sich alles, was von den höheren Hängen hinuntersickerte, und verwandelte den Boden unten in der Senke in einen schwarzen Morast: schmelzender Schnee, Regenwasser, flüssiger Schlamm, Reste von Überschwemmungen, die keine anderen Abflussbahnen gefunden hatten. Auch an sonnigen Tagen sorgten die steilen Berghänge dafür, dass kaum ein Sonnenstrahl es schaffte, einen Lichtschimmer in diesen tief liegenden, dunklen Winkel des Tales zu tragen. Undurchsichtige Dünste stiegen aus dem Sumpf empor, die einen modrigen Gestank in die Höhe trugen. Wenn die Hölle einen Vorraum habe, behaupteten Bewohner der umliegenden Dörfer, dann hier. Die wildesten Mythen schwirrten um die dunkle Grube von Wommeslock. Nur gelegentlich wagte ein Reisender, der es eilig hatte, den Bergweg am Rande der Schlucht zu nehmen, der als Abkürzung zwischen den nahe gelegenen Dörfern Malheaton und Windsley diente.
Ein Adliger aus ferner Vergangenheit war so weit von Sinnen gewesen, dass er tatsächlich ein Herrenhaus auf einem breiten Felsvorsprung an einer der dunklen Steinwände des Tals gebaut hatte. Earl Sinclair von Mattingley war sein Name gewesen. Die einzige Überlebende aus seiner aussterbenden Linie war Lady Harriet Mattingley, gegenwärtige Besitzerin und Bewohnerin von Mattingley Hall. Niemand konnte sich erinnern, seit wann genau sie dort an dem trostlosen Hang von Wommeslock wohnte. Es wurde gemunkelt, dass sie eine wilde Jugend in den vornehmsten Kreisen in London verbracht hatte. Überhaupt wurden viele Gerüchte über die Bewohnerin des mysteriösen Hauses verbreitet. Keiner wusste, was davon Wahrheit und was frei erfunden war. Aber in diesem Teil Nordenglands waren die Grenzen zwischen Mythos und Wirklichkeit seit jeher fließend, und keiner störte sich daran.
Von außen war Mattingley Hall – zumindest bei Einbruch der Dämmerung oder im Morgengrauen – kaum von den schattigen Felsen zu unterscheiden, die hinter dem Haus in die Höhe ragten. Das Leben im Innern des Hauses bildete jedoch einen krassen Gegensatz zu seinem matten und leblosen Erscheinungsbild. Ein normaler Tag fing mit den ersten lautstarken Befehlen aus den Gemächern von Lady Harriet an. Sobald sie erste Lebenszeichen von sich gab, waren die drei anderen Bewohner des Hauses am Springen, und das Tagwerk in Mattingley Hall begann. Dieses Tagwerk bestand lediglich aus der Aufgabe, mit Lady Harriets willkürlichen Launen mitzuhalten und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, bis sie sich abends zur Ruhe legte.
»Mabel, Mabel!«, erklang jetzt eine kreischende Stimme aus dem ersten Stock des düsteren Hauses. Schnelle, schwere Fußtritte stampften eine Treppe hoch, und eine junge Frau erschien atemlos an der Tür von Lady Harriets Zimmer.
»Was wünschen Sie, Mylady?«
»Regnet es draußen, Mabel?«
»In Strömen, Mylady.«
»Warum bist du so rot im Gesicht, Mabel?«
»Weil ich gerannt bin, Mylady.«
»Nach drei Monaten in diesem Haus müsstest du die Treppe doch schon längst gewohnt sein.«
»Ja, Mylady.«
»Ich will wissen, wie stark es regnet, Mabel. Das Wetter drückt so richtig auf die Fensterscheiben.«
»Ja, Mylady.«
Mabel eilte zum Fenster und zog den dicken Vorhang zur Seite, der die Sicht nach draußen auch tagsüber versperrte. Nicht dass viel zu sehen gewesen wäre. Regenströme trommelten gegen das dicke Glas. Der blasse Schein, der nun vom Fenster kam, beleuchtete die winzige Gestalt einer alten Frau, die am Rande eines verblichenen Sessels saß und mit großen, weit aufgerissenen Augen zum Fenster starrte. Mit ihren ungekämmten weißen Haaren und ihrer Hakennase sah sie wie ein Greifvogel aus, jederzeit bereit zum Sprung. Mit einer Hand umklammerte sie einen Spazierstock so fest, dass die dünne Haut, die ihre Fingergelenke überspannte, fast zu reißen drohte.
»Zieh den Vorhang richtig zur Seite, Mabel. Ich will dem Regen zuschauen.«
»Aber es gibt nichts Neues zu sehen, Mylady. Der Regen ist heute genauso …«
»Tue gefälligst, was ich sage, Mädchen«, brüllte die alte Frau in einem Ton, den man bei ihrer zierlichen, gebrechlichen Gestalt nicht von ihr erwartet hätte. Mabel machte vor lauter Schreck einen Schritt nach hinten.
»Selbstverständlich, Mylady«, stammelte sie, während sie mit beiden Händen die zwei Hälften des schweren Samtvorhangs zuerst zur einen, dann zur anderen Seite schob.
»Warum muss ich dir jeden Tag erklären, dass ich dem Regen zuschauen will? Wofür bezahle ich euch überhaupt, bettelarm wie ich bin?«, klagte Lady Mattingley, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen wollte.
»Es tut mir leid, Mylady, ich habe nur gedacht …«
»Ich will nicht wissen, was du nur gedacht hast. Hör auf, dich zu rechtfertigen. Verschwinde jetzt, sofort. Wer hat dich überhaupt hierherbestellt?«
»Aber Sie doch, Mylady! Sie haben doch gerufen!«
»Schluss jetzt!« Die alte Frau erhob sich zitternd und mit bedrohlicher Miene, mit beiden Händen auf den Knauf ihrer Krücke gestützt. Durch die dünne Haut über ihren Knöcheln war das Grau der Knochen sichtbar. Die Augen der Alten standen weit hervor und zeigten einen großen Teil der weißen Augenhaut, wenn sie aufgeregt war. Sie wirkte dann wie eine Schlange, die ihre Beute mit dem Blick fixiert, bevor sie sie verschlingt. »Und entferne dich gefälligst aus meinem Blickfeld!«
»Sofort, Mylady!« Mit angsterfülltem Blick rannte das Mädchen aus dem Raum. »Sie rufen, wenn Sie noch etwas brauchen!«
»Als ob ich jemals von dir irgendetwas gewollt hätte«, grummelte Lady Mattingley und ließ sich wieder in ihren Sessel fallen. In sich zusammengesunken, betrachtete sie den Regen, der immer heftiger gegen die Fensterscheiben peitschte. Schließlich fing sie an, an den Fingern aufzuzählen:
»Eine Zofe, ein Kammerdiener, ein Butler, zwei Lakaien, ein Kutscher, ein Koch und vier Küchenmädchen, eine Haushälterin, zwei Gärtner … aber das war früher. Jetzt ist jetzt. Jetzt ist es anders.«
Sie seufzte und legte ihre Hand wieder in den Schoß.
Mabel stolperte die Steintreppe hinunter, die in das Untergeschoss des Hauses führte.
»Faselt sie wieder?«, kam eine männliche Stimme aus der Küche, die Mabel nun betrat, völlig außer Atem. Hier in den unteren Räumen war das trübe Tageslicht noch nicht angekommen. An regnerischen Tagen war kein