Wie sehr hatte sie sich immer gewünscht, Klavier spielen, ein melodisches Lied vorsingen, fließend Französisch sprechen zu können – irgendetwas, um sich bei ihm Eindruck zu verschaffen. Doch eine lange Zeit hatten der Tod des Säuglings und Mutters darauffolgende Krankheit einen Schatten auf das gesamte Leben im Herrenhaus geworfen. Sobald aber Hubertus in der Tür gestanden hatte, hatte sich die beklemmende Stimmung im Haus gelöst. Lord Medway hatte ihn auf Anhieb gemocht. Er mochte alle Menschen auf Anhieb. Die zwei Männer diskutierten damals um die Wette über irgendwelche Nichtigkeiten. Oder sie erheiterten sich über Jasmins Fähigkeit, in einem einzigen Wortschwall von Dialekt zu Dialekt zu springen und damit eine ganze Abendgesellschaft zum Lachen zu bringen. Einmal gab sie die pompösen Prahlereien von Napoleon Bonaparte in bestem französischem Akzent wieder, gleich danach die Klagen eines Londoner Dienstmädchens im breitesten Cockney. Der Bauer aus Yorkshire, der die Kühe wegscheucht, gehörte genauso zu ihrem Repertoire wie der besoffene Seemann, aber gleich anschließend sprudelten Sätze im edlen Hochenglisch des königlichen Hofs über ihre Lippen. Noch nie hatte jemand über Jasmins Possen und Kapriolen so gelacht wie Hubertus. Solch ein schauspielerisches Talent habe er noch nie erlebt, sie wäre auf den Bühnen Londons eine Sensation, meinte er. Die Stimmung war ausgelassen, und selbst Ellen konnte sich nicht verkneifen, laut zu kichern. Jasmin war nach dem Ausklang der Abendgesellschaft nach oben gerast, um ihrer Mutter zu erzählen, dass jemand sie talentiert fand, obwohl sie nie Klavier geübt oder Stimmübungen gemacht hatte.
Ein Abend später: Jasmin fühlte in Gedanken noch einmal die raue Haut seines Kinns an ihrer Stirn. Sie erlebte erneut den Augenblick, in dem er mit seinen weichen Lippen über ihr Gesicht streifte, Liebkosungen hauchte. Sie spürte seinen feuchten Atem, den Griff seiner Arme, der immer fester wurde, während sein Mund nach ihrem Mund suchte. Sie hatte sich kurz gewehrt und ihr Gesicht abgewandt.
»Mr Argyle, nein – nicht so schnell!«, hatte sie geflüstert, »ich bin ein anständiges Mädchen!«
»Das sollen Sie auch bleiben, keine Sorge«, hatte er zurückgeflüstert. »Aber selbst Ihr Vater wird nichts dagegen haben, dass ein über die Maßen verliebter Verehrer seine Angebetete küsst!«
Julius’ Bellen hatte sie unterbrochen. Hubertus hatte gelacht, war mit beiden Händen durch Jasmins nass geschwitzte Haare gefahren und hatte gefragt:
»War das Ihr Ja? Darf ich Ihren Vater um Ihre Hand bitten?«
»Von Julius ein Nein und von mir ein Ja bitte!«, hatte sie zurückgesäuselt. Wie konnte man nach so einem schwindelerregenden Kuss Nein sagen?
Am nächsten Tag war Mutter tot.
Hubertus verlängerte seinen Aufenthalt in Keighley. Jeden Tag nahm er die Postkutsche nach Kebworth Place, um der erschütterten Familie beizustehen. Geschäfte könnten warten, meinte er. Das Wohlergehen seiner neuen Freunde sei wichtiger. Sein Begleiter war nach London zurückgekehrt. Lord Medway war dankbar für Hubertus’ Anwesenheit, die für ihn und für seine Tochter so tröstlich war.
Die Küsse wurden häufiger, jetzt, wo Hubertus immer öfter ins Haus kam. Die Trauer über den Verlust, die Verzweiflung, die Einsamkeit, die Vorwürfe, die Jasmin überrollten, sich nicht genug um ihre Mutter gekümmert zu haben, die Albträume, die sie nachts plötzlich mit grotesken Fratzen und grausamen Szenen heimsuchten – alles war im Nu weg, sobald Hubertus sie in seine Arme nahm. Seine Nähe hatte eine magische Wirkung auf ihre aufgewühlte Seele. Ihr Vater bekam von der wachsenden Leidenschaft zwischen Hubertus und seiner Tochter zunächst nichts mit. Erst nach ein paar Wochen fasste Hubertus sich ein Herz und bat den Lord um die Hand seiner Tochter. Die Verlobung fand aus Respekt für die verstorbene Lady Devreux in aller Stille statt, ein großes Fest wurde erst für später ins Auge gefasst.
Während Jasmin nun in ihrem Bett lag und seinen Brief mit den zärtlichen Abschiedsworten las, rief sie sich jede Empfindung, jede Regung bei den ersten Begegnungen mit Hubertus wieder in Erinnerung. Ihr Herz klopfte, eine tiefe Sehnsucht, seinen Körper neben dem ihren zu spüren, kam über sie. Sie legte den Brief an ihre Brust, küsste die Stelle, auf die er seinen Namen geschrieben hatte, blies die Kerze aus, zog die Kissen unter ihren Kopf und schloss die Augen.
»Sogar ein Leben in London nehme ich für dich in Kauf«, flüsterte sie. Dann döste sie weg. Bilder von Erdbeeren, die Farben des Flieders im Park, das Bellen von Julius in der Ferne, die Pastelltöne der Edelwicke unter ihrem Fenster, der helle Gesang der Amsel in den Kastanienbäumen, aufgetürmte weiße Wolken vor einem dunklen Himmel – all das kreiste in ihrer Seele durcheinander und verschmolz ineinander, bis sie tief und fest schlief.
2
Als die Kirschblüten verwelkten und ein satter, grüner Frühsommer ins Land zog, stürzte sich Jasmin gierig auf jedes kleinste Lebenszeichen von Hubertus. Sie hatten sich seit dem Verlobungsfest nicht mehr gesehen. Auf der Suche nach neuen Märkten für sein blühendes Tageblatt war er oft auf Reisen, ließ jedoch keine Gelegenheit aus, Jasmin hier ein Kärtchen, dort eine kurze Liebesnachricht und immer wieder eine neue Idee für die Hochzeitsfeierlichkeiten zukommen zu lassen. Wenn er Zeit hatte, brachte er lange, ausführliche Darlegungen seiner Empfindungen für sie zu Papier, die sie vor Verlegenheit erröten ließen. Ihr Glück an jedem beliebigen Tag hing davon ab, ob der Postbote einen Brief von Hubertus brachte oder nicht. In jedem wachen Augenblick wanderten ihre Gedanken nach London. Ihr Unbehagen, das vertraute Zuhause in Yorkshire zu verlassen, wich nach und nach der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Hubertus, auf die Hochzeit und das rege Leben in der Großstadt.
»Ich fahre bald zu meiner Schwester«, rief Ellen eines Tages aus Jasmins Schlafzimmer, während sie das Bett aufschüttelte und das Nachthemd zusammenfaltete.
»Was geht mich das an?«, rief Jasmin aus dem angrenzenden Wohnzimmer zurück, ohne von dem Brief hochzublicken, den sie gerade schrieb. Ellen zog die Bettdecke über das Kopfkissen und strich sie glatt. »Nichts, Jasmin. Nancy wird nach dir schauen. Aber es wäre schön, wenn du mehr Zeit mit deinem Vater verbringen würdest.«
»Soll er mir doch selber sagen, wenn er mich mehr sehen will.«
»Das würde er nie machen, das weißt du.«
»Ich war gestern eine ganze Stunde bei ihm.«
»Aber nur, um die Preisliste für das Hochzeitsmenü zu besprechen.«
»Und? Hat ihn interessiert.«
Ellen erschien an der Tür, stellte sich vor Jasmins Schreibtisch und nahm mit sanftem, aber festem Griff die Feder aus Jasmins Hand.
»Jasmin, schau mich einmal an und hör mir zu.«
Bevor die junge Frau sie unterbrechen konnte, redete Ellen weiter. Ihre Stimme zitterte.
»Eine Liebesbeziehung, die zu einer Besessenheit wird, verspricht nichts Gutes. Überdenke das Ganze noch mal, Jasmin. Probleme, die vor der Heirat da sind, verschwinden nicht mit der Heirat. Ihr braucht mehr Zeit, du musst ihn besser kennenlernen. Du bist nicht wirklich glücklich. Können wir nicht darüber reden?«
Jasmin erhob sich, stemmte die Hände in die Hüften und schoss feurige Blicke auf die Bedienstete.
»Ich verbiete dir, noch einmal über dieses Thema zu reden, Ellen! Noch einmal, und du kannst gehen!«
Ellen zögerte.
»Also gut, wie du meinst«, sagte sie leise und verließ den Raum.
Jasmin hatte Ellen nicht verraten, dass die Erinnerung an ihre Mutter sie wie nie zuvor quälte. Ihre Grübeleien ließen