Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicola Vollkommer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783775175159
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setzte alle Hoffnungen auf Seelenruhe auf ihre bevorstehende Heirat. Mit Hubertus an ihrer Seite würde sie ein für alle Mal die Geister der Vergangenheit verbannen, die sich immerzu in den hintersten Winkeln ihrer Fantasie einnisteten, bereit zum Angriff, sobald sie in einem trägen Augenblick ihren Gedanken freien Lauf ließ.

      Sie wusste später nicht mehr genau, wann es passiert war. Irgendwann im Frühsommer. Ganz plötzlich. Es war, als ob ein Fremdwesen im Hinterhalt gelauert hätte, bis ihre Seele träge weggedöst war, um dann ohne Vorwarnung zuzupacken. Von dem Moment an war sie diesem Wesen hilflos ausgeliefert. Die Eindrücke, die sie sich jede Nacht vor dem Einschlafen in Erinnerung rief – von Erdbeeren und Edelwicken, vom Gesang der Amsel und dem Bellen des Hundes, von den zärtlichen Küssen ihres Verlobten –, waren in einem Augenblick fort. Stattdessen wieder die Brücke. Ihre Mutter wippte hin und her. Die Haare flatterten im Wind, der Stoff ihres Nachthemdes wehte um ihren dünnen Körper. Schillernde Farben, obwohl es Nacht war. Jasmin war auf einmal selber mitten im Geschehen, fühlte den Wind, der nun gnadenlos gegen ihr eigenes Gesicht peitschte. Sie rannte durch das Gestrüpp, den Berg hoch, hechelnd, schreiend, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Ihre Lungen waren dem Bersten nahe. Als sie die Brücke erreichte, erstarrte sie vor Schreck. Ihre Mutter stand dort nicht alleine. Eine dunkle Gestalt schlich sich von der anderen Seite an sie heran, hielt hinter ihr. Jasmin wollte losspringen, ihre Mutter festhalten, aber sie stand wie angewurzelt, ihre Beine waren wie gelähmt, wie aus Blei. »Jetzt!«, rief eine männliche Stimme, danach sah Jasmin nichts mehr. Es folgte ein durchdringender Schrei, der den Wind übertönte und durch die Luft schallte, auch noch lange, nachdem etwas auf das Wasser weit unten aufgeschlagen war. Schritte auf der Brücke waren zu hören. Jasmin sank zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht. Es war, als ob sie immer weiter hinuntersinken würde, noch weiter und noch weiter, bis sie sich mit einem Ruck in ihrem Bett aufrichtete, schweißgebadet und zitternd am ganzen Leib. Tränen liefen ihr über die Wangen.

      »Ellen, wo bist du?«, schluchzte sie – und erinnerte sich sofort daran, dass Ellen am Tag zuvor abgereist war, um ihre Schwester zu besuchen.

      In der Ferne hörte sie, wie Julius bellte und das Eisen der Kette schepperte, an der er in den Sommernächten im Hof neben der Küche festgebunden war. Sie stolperte aus dem Bett, schwankte zum Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Eine schwache Morgendämmerung beleuchtete die Bäume am Rand des Parks, ein grauer Schleier hing über der Landschaft. Sogar das warme Hellbraun der Mauer, die den Park umfasste und mit den gleichen für die Gegend typischen Sandsteinen gebaut war wie das Haus selbst, war wie in graue Farbe getaucht.

      »Ruhig bleiben, ruhig bleiben«, murmelte sie vor sich hin. Sie schob den Fensterflügel, der nachts einen Spalt offen gewesen war, nach hinten, lehnte ihren Kopf über den steinernen Sims und atmete die frische Nachtluft in tiefen Zügen ein. Die Schwere in ihrem Kopf ließ nach, und sie versuchte, klar zu denken. Gut, dass Ellen nicht da war. Ellen sollte nicht erfahren, was sie geträumt hatte. Sie würde sich nur wieder Sorgen machen, sich beklagen, dass ohnehin alles viel zu schnell gegangen sei. Sie hatte schon immer an Jasmins Freundschaften etwas auszusetzen gehabt. Auch an ihren Freundschaften zu anderen Mädchen. Überhaupt missbilligte Ellen alles. Mit welchem Recht eigentlich? Sie war die Bedienstete der Familie, führte sich jedoch seit Mutters Tod wie eine Herrin auf.

      Sollte Jasmins hübscher Kopf einmal durch irgendwelche Sorgen beschwert sein, sollte sie in eine Kutsche springen und nach London kommen. Hubertus hatte das zum wiederholten Mal in seinem letzten Brief geschrieben. Er hatte betont, dass er jetzt mehrere Wochen in London sein würde, somit meinte er das Angebot wohl ernst. Ein erster zarter Sonnenstrahl der aufgehenden Sonne drang durch die Bäume und bildete einen hellgrünen Lichtkegel auf der Fläche des sorgfältig gepflegten Rasens unter ihrem Fenster. Bald würde sich der graue Dunst in der tiefgoldenen Glut der Morgensonne auflösen. Jeder Stein, jeder Baum, jede Pflanze würde das Strahlen wiederspiegeln und die Landschaft in eine goldene Idylle verwandeln. Eine Amsel sang ihr Morgenlied. Ein Funke Hoffnung keimte in Jasmins Herz auf. Sie wandte sich vom Fenster ab, zog den Vorhang wieder zu und fing an, sich für den Tag fertig zu machen.

      Sie hängte das Tageskleid weg, das Nancy am Abend vorher für sie herausgelegt hatte, holte stattdessen ein elegantes Reisekostüm aus dem Kleiderschrank, zog es über Kopf und Wäsche und knöpfte es mit Mühe hinten zu. Sie würde Hubertus beim Wort nehmen und zu ihm fahren. Je mehr sie mit dem Gedanken spielte, desto mehr platzte ihr Herz beinahe vor Sehnsucht – nach ihrem Liebhaber, aber auch danach, endlich frei zu sein von der Last der Albträume, die sie plagten. Sie schleppte den Schemel, der vor ihrer Kommode stand, zum Schrank und kletterte behutsam darauf, um einen kleinen ledernen Reisekoffer herunterzuholen, der auf dem Schrank verstaut war. Der Tag war noch jung, aber die Bediensteten waren schon bei der Arbeit.

      »Die Kutsche steht bereit, Mylady«, rief Gilbert eine Stunde später, als Jasmin durch die Küchentür in den Hof eilte, wo sich das Kutschhaus und die Pferdeställe befanden. »Adam fährt Sie, die Pferde können in Nottingham und Bedford gewechselt werden. Dort können Sie auch übernachten. Ich habe schon Proviant für Sie und Nancy eingepackt.«

      »Eine Portion hätte gereicht, Gilbert. Nancy kommt nicht mit.«

      »Wie? Allein, Mylady? Bei drei Übernachtungen und bis zu vier Tagen Fahrzeit?«

      »Rede nicht so mit mir, Gilbert. Meinst du, ich fahre zum ersten Mal nach London?«

      »Aber doch nicht … Verzeihen Sie mir, Mylady, aber ich bestehe darauf, dass Nancy mitfährt. Weiß Ihr Vater nichts von Ihrem Vorhaben?«

      Jasmin antwortete nicht, bedeutete Gilbert stattdessen, ihren Koffer zu nehmen.

      »Ich kann nicht verantworten, dass Sie in Gefahr kommen, Mylady. Außerdem arbeite ich gerne hier, Mylady, ich will nach so vielen Dienstjahren nicht in die Missgunst Ihres Vaters geraten!«

      Jasmins Ton wurde ungeduldig.

      »Ach, seit wann wurde irgendjemand von meinem gütigen Vater jemals entlassen, Gilbert? Ich bin erwachsen genug. Vater ist nicht fähig, zornig zu sein, selbst wenn er es wollte. Ich muss dringend für die Hochzeit etwas regeln und möchte niemanden damit belästigen. Meinem Vater habe ich eine Nachricht hinterlassen. Die Kutsche braucht er nicht. Er wird sich keine Sorgen machen, er weiß, dass ich zu Hubertus fahre.«

      Gilbert stand kopfschüttelnd mit dem Koffer in der Hand da.

      »Aber Mylady, der Anstand? Was denken die Leute, wenn Sie ohne Begleitung in der Nähe von Mr Argyle gesehen werden?«

      »Bitte verstaue meinen Koffer oben auf der Kutsche, Gilbert. Ich kann auf deine Belehrungen verzichten, ich habe es eilig.«

      In einem sanfteren Ton fügte sie hinzu: »Und bitte verrate meinem Vater zunächst nicht, dass ich bereits gefahren bin.«

      Gilbert schluckte und nickte.

      »Hätten Sie die Hochzeitsangelegenheit nicht mit der Post klären können?«, fragte er, während er den Koffer auf die Gepäckablage der Kutsche hievte.

      Jasmin stampfte mit dem Fuß.

      »Mit der Post, Gilbert? Ich kann nicht glauben, dass du das gesagt hast. Warst du noch nie verliebt? Hol meinetwegen Nancy, wenn es sein muss und wenn dich das in Ruhe schlafen lässt. Sie kann oben neben Adam auf dem Fahrersitz mitreisen und wird nicht im Weg sein.«

      Die Pferde schnaubten ungeduldig. Ein paar Minuten später rannte ein junges Dienstmädchen kichernd aus dem Haus und stopfte beim Laufen ein paar zusammengeworfene Kleiderstücke in eine Stofftasche.

      »Ich darf wirklich mit, Mylady? Ich kann es nicht glauben! In die Großstadt?«

      »Nur weil Ellen nicht da ist«, mahnte Jasmin. »Hoch mit dir, auf den Sitz. Und bitte nicht plappern. Ich brauche meine Ruhe.«

      Jasmin hielt sich am Geländer der kleinen Treppe fest und stieg auf die erste Stufe. Als Gilbert versuchte, ihr seinen Arm zu bieten, stieß sie ihn von sich.

      »Aber Mylady …«

      »Was ist jetzt noch, Gilbert?«

      »Sie wissen, dass Mr Turnquist heute zu Besuch