Ellen sagte nichts. Julius wimmerte, während sie einen Schuss Milch in den Tee goss.
»Mrs Simmons’ Zustand ist unverändert, Jasmin. Gilbert meint, ihre vergesslichen Phasen werden länger. Ich vermute, es ist eine Art Flucht. Die arme Frau macht sich nach wie vor Vorwürfe wegen deiner lieben Mutter – möge sie in Frieden ruhen.«
»Vergesslich geworden?«, warf Jasmin ein. »Ich wette, sie plaudert trotzdem ununterbrochen. An Gesprächsstoff mangelt es ihr gewiss nicht.«
Ellen gab einen Zuckerwürfel in die Tasse und rührte mit einem kleinen Silberlöffel in dem Tee.
»Urteile nicht so hart, Jasmin. Ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit und es war geschehen, deine Mutter war davongelaufen. Ich befürchte, Mrs Simmons wird nie darüber hinwegkommen.«
Jasmin nahm die zierliche Tasse an ihren Mund und nippte an dem Tee.
»Soll sie auch nicht. Eine Zofe ist dazu da, ihre Herrin zu versorgen. Das war Pflichtunterlassung höchsten Grades.«
»Fang nicht damit wieder an, Jasmin. Deine Vorwürfe sind nicht gerecht. Falls deine Mutter sich wirklich das Leben nehmen wollte, dann hätte auch die aufmerksamste Zofe sie nicht daran gehindert. Sie ist nicht die erste und wird auch nicht die letzte Frau sein, die auch Jahre nach dem Verlust eines Säuglings um ihren Verstand kommt. Sie hatte alles darauf gesetzt, deinem Vater doch noch einen Sohn zu schenken. Und was Mrs Simmons betrifft: Als ob sie nicht schon genug unter ihren eigenen Vorwürfen gelitten hätte, sind deine noch hinzugekommen. Deshalb solltest du nun diejenige sein, die sie besucht und tröstet, nicht dein Vater. Mrs Simmons würde alles geben, sich mit dir zu versöhnen …«
Lady Jasmin starrte auf die Tasse, die sie immer noch in der Hand hielt.
»Jetzt reicht’s Ellen. Solche Töne dulde ich nicht mehr. Kannst du deine Belehrungen bitte für immer hierlassen, wenn wir nach London ziehen? Deine Mrs Simmons weiß deine Vorträge nämlich mehr zu schätzen als ich. Und übrigens, ihre näselnde Stimme finde ich nach wie vor ungenießbar, vor allem bei ihrem unaufhörlichen Geplapper, ganz zu schweigen von …«
»Seien wir nur dankbar, dass wenigstens dein Vater die Güte besitzt, sich um die arme Frau zu kümmern. Ich gebe aber meine Hoffnung noch nicht auf, dass seine Tochter irgendwann in seinen Fußstapfen folgen wird.«
»Du bist aber heute hartnäckig, Ellen. Merkst du nicht, dass ich das Thema wechseln will?«
»Es gibt Themen, die wir lieber nicht zu schnell wechseln sollten. Du tust gut daran, dich zu erinnern, dass Mrs Simmons nicht von der Seite deiner Mutter gewichen ist, als sie krank wurde.«
Als Antwort wischte Jasmin sich die Krümel vom Mund.
»Dein Shortbread ist nach wie vor nicht zu übertreffen, liebe Ellen. Das ist etwas, was ich sehr vermissen würde, wenn du nicht mit nach London kämst. Wie auch unseren Nachmittagstee. So, jetzt sind wir ganz von alleine auf ein anderes Thema gekommen.«
»Und schon wieder hat sich stapelweise gebrauchtes Geschirr hier angesammelt«, tadelte Ellen. »Ich hoffe, das hört auf, wenn ich dich nach London begleite. Und das war jetzt noch mal ein Themenwechsel.«
Ellen füllte ein Porzellanschälchen mit frischen Erdbeeren, während sie redete.
»Sind die jetzt schon reif, Ellen?«
Jasmin nahm eine der kleinen Früchte zwischen zwei Finger und hielt sie sich an den Mund.
»Südhang, da reifen sie am schnellsten. Heute geerntet, ganz frisch.«
»Übrigens, Hubertus meint, er hätte sich in Kebworth Place im gleichen Moment verliebt, in dem er sich in mich verliebt hat.«
»Wahrscheinlich ein paar Sekunden davor. Vermutlich hat er sich zeitgleich auch in dein Erbe verliebt.«
»Natürlich musste das jetzt kommen. Man muss dich einfach lustig finden, Ellen! Sobald du wieder bei Laune bist, lese ich dir all die Ideen vor, die Hubertus sich für die Zukunft von Kebworth ausgedacht hat. Er will Teppiche und Wandbehänge aus Indien anschaffen. Er hat gute Verbindungen zur East India Company und darf die neuesten Waren besichtigen, noch bevor sie die Schiffe verlassen haben.«
»Was du nicht sagst. Wollte ich schon immer.«
»Ach hör endlich auf. Sogar du wirst dich freuen, wenn du Kebworth in neuem Glanz siehst. Vater ist viel zu nachlässig, meint Hubertus. Jeder Bedienstete wickelt ihn um den kleinen Finger, es muss besser gewirtschaftet werden. Mit Gutmütigkeit lässt sich kein noch so vornehmes Landgut verwalten.«
»Ohne die Gutmütigkeit deines Vaters gäbe es Kebworth Place nicht mehr, meine Liebe.«
Ellen redete weiter, während sie in Lady Jasmins Tasse Tee nachfüllte.
»Die Dorfleute wollten nach Keighley, Bradford und Skipton ziehen und in den Fabriken arbeiten. Sie erhofften sich von den Warenlagern, Färbehäusern und Kontoren ein besseres Leben. Wenn dein Vater das Haus und die Ländereien nicht just zu der Zeit übernommen und den Bauern versprochen hätte, ihre Häuser instand zu setzen und ihnen mehr vom Ertrag ihrer Felder zu überlassen, dann hätten auch wir gleich nach Keighley mitziehen können. Hier, ein Schuss Milch.«
»Recht hast du, Ellen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass er zu Mrs Simmons zu großzügig ist. Die Dorfleute witzeln, dass Vater zwar die Kutschen, Hüte und Spazierstöcke eines Adligen hat, aber das Herz eines Bauers. Das ist so beschämend.«
»Das höchste Kompliment, das ein Edelmann bekommen kann, wolltest du sagen.« Ellens Stimme zitterte. »Es gibt wenig Adlige, die im Dorfgerede so einen Ehrenplatz einnehmen wie Lord Medway, Jasmin. ›Dein Spazierstock mag mit Gold verziert sein, aber in deinen Augen soll er wie ein Besen sein: Zu jeder Zeit bereit, einfache Arbeiten auszuführen‹, hat dein Vater immer gesagt, wenn feine und eitle Leute um seinen Tisch saßen. Ich hoffe sehr, dass Mr Argyle …«
Ellen seufzte und führte den angefangenen Satz nicht zu Ende.
Jasmin trank ihre Tasse leer und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.
»Aber Hauptsache, du bist glücklich, mein Kind«, fuhr Ellen fort. »Und glaube mir, ich bin froh, dass die Albträume aufgehört haben und du deiner Zukunft mit Zuversicht entgegenblickst. Ich war besorgt, weil die Träume erst dann anfingen, als Hubertus dir den Hof machte.«
Jasmin legte ihre Hand auf Ellens Arm und schaute sie mit einem ernsten Blick an.
»Mache dir keine Sorgen, liebe Ellen. Nimm meine Nörgeleien nicht zu Herzen. Und sag bitte nicht schon wieder, dass du Angst um den Einfluss der Großstadt auf Kebworth Place hast. Ich werde dafür sorgen, dass mein lieber Hubertus das Anwesen später in Vaters Sinne weiterverwaltet.«
»Ich will es hoffen. Dein Vater setzt großes Vertrauen in ihn.«
Jasmin stand auf und legte ihre Serviette auf das Tablett.
»Aber zum Glück werden bis dahin viele Jahre verstreichen. Und in der Zeit darf er von Vater viel lernen!«
Sie küsste Ellen auf die Stirn und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch.
»Und stell dir vor, Ellen, Hubertus hat angefangen, in der alten Bibel seiner Mutter zu lesen, und er schließt jeden Brief an Vater mit einem Vers ab!«
»Und das soll mich beeindrucken?«
Ellen sagte nichts mehr, stapelte das Geschirr auf das Tablett, fragte, ob Lady Jasmin noch etwas wünsche, und verließ das Zimmer.
Mörder schlägt wieder zu. Drittes