»Was ist bloß mit dir los, Gilbert? Dass Mr Turnquist hier ist, ist für mich ein weiterer Grund, mich so schnell wie möglich von hier zu entfernen. Er ist der unfreundlichste Mensch, den ich in dieser Welt kenne. Herzlos, hölzern und mager wie sein Spazierstock.«
Gilbert hob eine Augenbraue hoch und schaute zu, wie Lady Jasmin die drei Stufen zur Tür der Kutsche hochstieg. Sie setzte sich auf die Bank und strich ihren Rock zurecht. Gerade als Gilbert die Tür von außen zuschlagen wollte, lehnte sie sich zur Seite und drückte mit ihrer Hand dagegen.
»Und noch eine Sache, Gilbert. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, das belehrt werden muss. Wenn mein Vater mich bei den Beratungen dabeihaben wollte, hätte er es mir selber gesagt. Erbschaftsangelegenheiten gehen mich nichts an. Vater erfreut sich einer tiefen Verbundenheit mit Hubertus, mit dem Vermögen ist also alles bestens bestellt. Mach dir keine Sorgen, Adam bleibt bei mir, und jetzt ist auch Nancy dabei. Sie wird meine Kleider morgens auslegen und dafür sorgen, dass mir kein Ungeziefer in meinen Schlafgemächern auflauert und dass mein Ruf nicht verdorben wird. In acht Tagen bin ich wieder da. Bitte sorge dafür, dass Julius ruhig ist.«
Der Hund bellte inzwischen laut.
Jasmin zog die Tür zu, schnürte ihre Haube unter dem Kinn fest, starrte stur geradeaus und würdigte Gilbert keines Blickes mehr, als Adam die Pferde zu einem schnellen Trab antrieb und die Kutsche über das Kopfsteinpflaster des Hofes durch ein hohes Tor führte. Winzige Steine flogen unter den Hufen der Pferde in alle Richtungen. Das Knirschen der Räder auf den Kieselsteinen durchbrach die morgendliche Ruhe. Die Vögel trällerten ihr Aufwachlied in den Ästen der Kastanienbäume am Rande des Parks. Als Antwort nahmen die jungen Frösche, die den Tümpel unter den Bäumen in Scharen bewohnten, ihren quäkenden Morgengesang auf.
Es war ein erhebendes Gefühl, auf Reisen zu sein. Zum ersten Mal hatte Lady Jasmin eigenständig Befehle erteilt, und diese waren sofort befolgt worden. Zumindest fast. Gilbert war viel zu besorgt, aber er meinte es gut. Jetzt hatte er keine Widerrede mehr gewagt, nachdem Nancy mit von der Partie war. Jasmin beschloss, besonders freundlich zu ihm zu sein, sobald sie wieder zurückkehrte. Ein Gefühl von Macht, Waghalsigkeit, Unabhängigkeit überkam sie. Sie, die zukünftige Herrin von Kebworth Place, Lady Jasmin Devreux, musste nur mit einem Finger schnipsen, und alle sprangen. Und jetzt war sie unterwegs in die Großstadt, um ihre große Liebe aufzusuchen – sie war dabei, einer sonnigen Zukunft entgegenzueilen. Frei von den Schatten der Vergangenheit und den dunklen Fragmenten jener anderen Welt, die immer wieder ungebeten in ihr Bewusstsein hineindrängten. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie an ihrem Ring.
»Nur so schnell wie möglich in deiner Nähe sein, lieber Hubertus, und ab Herbst für immer bei dir geborgen bleiben, dann sind die Schatten dauerhaft aus meiner Seele verbannt«, flüsterte sie.
Der Nebel wich, und der frühsommerliche Morgen entfaltete sich in seiner ganzen Herrlichkeit. Die lange, sich windende Einfahrt zum Haus war gesäumt von Blumenbeeten und ungezähmten Sträuchern, Reste einer Gartenidylle, die bessere Zeiten gekannt hatte. Lavendel breitete sich zwischen den steifen Stämmen der Stockrosen und den langen Blättern der orangefarbenen Schwertlilien aus, Zitronenmelisse wucherte an jeder Stelle, die die anderen Pflanzen frei gelassen hatte, zarte Rapsblüten blickten zögerlich aus den Ritzen der Steinmauer, umgeben von Efeugestrüpp und Brombeerranken.
»Neue Gärtner müssen wir anstellen, das muss ich Hubertus sagen«, überlegte Jasmin. »Er wird dafür sorgen, dass dieses Anwesen zu seinem früheren Glanz zurückfindet.«
Bald ließ sie Kebworth Place hinter sich. Das Leben in der ländlichen Idylle Nordenglands schlummerte noch. Ein Bauer schlenderte pfeifend mit einer Sichel und einer Mistgabel über der Schulter am Straßenrand entlang. Er hielt kurz an und hob die Kappe, als die Kutsche an ihm vorbeiratterte. Mohnblumen nickten am Wegrand ihren morgendlichen Gruß, Königskerzen streckten ihre strammen Blüten zur Sonne. Bienen summten. Jasmin lehnte sich zurück. Eine Last war von ihrem Herzen gefallen. Die düsteren Wolken, der Sturm, die Brücke, die flatternden Gewänder ihrer Mutter, die schattige Gestalt, der Sturz … die Erinnerung an die Bilder verblassten mit jeder Meile, die die Kutsche zurücklegte. Die Aussicht, Kebworth hinter sich zu lassen, erfüllte sie nicht mehr mit einem Gefühl von Ungewissheit, wie sie es anfänglich empfunden hatte. Vielleicht wäre London doch die Erlösung, weit weg von jener Brücke, von Mrs Simmons und ihrer näselnden Stimme, von jenem verhängnisvollen Fluss. Julius würde ja mitkommen.
Sie schlief ein.
»Und Sie haben ihr tatsächlich noch nichts gesagt, Mylord?«
»Ich habe immer wieder angesetzt, etwas zu sagen, aber ich konnte mich bisher nicht dazu durchringen, Mr Turnquist. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, voll Hochgefühl und Liebesglück. Ich bringe es nicht übers Herz, ihr diese Freude zu nehmen.«
Die beiden Männer gingen langsam im Schatten der Kastanienbäume am Rande von Kebworth Park. Mr Turnquist war ein großer, hagerer Herr um die vierzig mit strengen, gleichmäßigen Gesichtszügen und dunklen Haaren, die ihm ungeordnet über die Stirn hingen. Er beobachtete sein Umfeld mit scharfen Augen und einer besorgten Miene und lachte selten.
Er hielt an und wandte sich zu seinem Gastgeber.
»Wenn ich das sagen darf, Mylord: Tatsachen, und seien sie noch so unbequem, haben wenig Geduld und sprechen sich schnell herum. Von irgendjemandem wird Lady Jasmin die Wahrheit hören. Sie hängt an Ihnen, Sir, und sie wird am Boden zerstört sein, wenn sie erfährt, dass Sie schon die ganze Zeit krank waren und ihr nichts gesagt haben. Wenn sie die Wahrheit nicht von Ihnen selbst erfährt, wird sie das nicht als Rücksicht verstehen, sondern als Misstrauen. Vergessen Sie nicht, das Kind hat sich noch nicht vom Schock des letzten Verlustes erholt.«
Lord Medway runzelte die Brauen, schwang seinen Spazierstock in die Höhe und klopfte an einen tief hängenden Ast, der über seinem Kopf hing.
»Ja, eben.«
»Lassen Sie mich mit ihr reden, Mylord, wenn Sie es nicht übers Herz bringen. Nur fürchte ich, Ihre Tochter ist nicht gut auf mich zu sprechen, nachdem ich es gewagt habe, Mrs Simmons in Schutz zu nehmen. Sie würdigt mich seit Monaten keines Blickes mehr.«
»Ach, das müssen Sie dem Kind nachsehen. Jasmin braucht einen Sündenbock, um den Tod ihrer Mutter zu verkraften, und ihre unglückliche Wahl ist auf Mrs Simmons gefallen. Sie trauert noch. Die Wunde ist frisch, und ihr flatterhafter Dickkopf führt sie manchmal auf Irrwege. Es wird vorbeigehen.«
»Das tut mir nur leid für Mrs Simmons. Dann sagen Sie mir, wo ich Ihre Tochter finden kann, Sir. Wir müssen in den sauren Apfel beißen und sie über Ihren Gesundheitszustand aufklären.«
»Heute nicht, Mr Turnquist. Sie hat eine Nachricht hinterlassen, dass sie verreist ist. Ich werde es machen, keine Sorge. Irgendwann ergibt sich die Gelegenheit. Diese Nachricht muss sie aus meinem Mund hören.«
Er beschleunigte seine Schritte, während er redete, und versuchte dann, seiner Stimme einen heitereren Klang zu verleihen.
»Sie wollten doch die Frösche sehen. Mr Argyle will den Tümpel übrigens ausgraben, vom Schlamm befreien und zu einem kleinen See ausbauen lassen.«
Er führte seinen Gast zu einer Bank unweit des Tümpels, wo die beiden sich setzten.
»Wenn ich hartnäckig bleiben darf, Sir: Der Tümpel interessiert mich weniger als die Lage, in der Sie sich befinden. Die Gelegenheit für ein ungewolltes Gespräch ergibt sich nie von alleine.«
Lord Medway seufzte.
»Ich weiß, ich schiebe ungewollte Gespräche gerne auf die lange Bank, Mr Turnquist. Aber bald ist das Kind in besten Händen, auch mit ihrer Trauer, wenn ich sterbe. Ich kann mir keine bessere Partie für sie vorstellen als Mr Hubertus Argyle. Wenn es einen gibt, der ihren Kindskopf liebevoll mit Vernunft füllen und aus ihr eine besonnene Dame machen kann, dann er. Er ist völlig in sie vernarrt.«
Mr Turnquist stocherte mit seinem Spazierstock