Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicola Vollkommer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783775175159
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Der Zeigefinger. Nur ein Stumpf. Der einzige Teil seiner Hand, der nicht dicht behaart war. Die Haut war glatt, sie leuchtete rötlich. Komisch, welche nichtigen Einzelheiten einem sogar im Traum auffallen. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Wo hatte sie diese Hand schon einmal gesehen?

      Sie wusste eine Weile nicht, ob sie noch träumte oder schon wach war, bis ihr auffiel, dass die Räder nicht mehr donnerten und die Kutsche nicht mehr hin und her geschüttelt wurde.

      »Lady Jasmin, Lady Jasmin! Was war mit Ihnen?«

      Sie spürte ein sanftes Rütteln an ihren Schultern, kaltes Wasser in ihrem Gesicht, eine scharfe, bittere Flüssigkeit in ihrem Hals. Zunächst wie im Nebel, dann aber immer klarer, erkannte sie Adams und Nancys Gesichtszüge, die besorgt über ihr schwebten. Sie lag auf dem Sitz in der Kutsche, Adam hielt ihr eine Schnapsflasche an den Mund.

      »Wir suchen einen Arzt, Mylady, und danach fahren wir im Galopp wieder nach Hause. Sie sind krank. Sie haben so geschrien, dass sogar die Pferde vor Angst losgaloppiert sind.«

      Seine Stimme zitterte, er war sichtlich erschrocken. Nancy heulte. Jasmin schüttelte den Kopf.

      »Mit allem Respekt, Mylady«, fuhr Adam fort. »Ich habe diese Reise schon die ganze Zeit für eine dumme Schnapsidee gehalten. Ich bringe Sie gleich wieder nach Hause. Den Rat, den Sie von Mr Argyle holen wollten, können Sie in einem Brief erfragen.«

      Jasmin richtete sich kerzengerade auf und blickte ihm direkt in die Augen.

      »Seit wann erteilst du mir Befehle, Adam? Hast du etwas missverstanden und deine Stellung vergessen?«

      »Verzeihen Sie, Mylady, ich bin nur sehr besorgt.«

      »Nein, Adam. Wir fahren nicht zurück. Wir sind beinahe am Ziel. Ich bin nicht krank. Ich habe nur schlecht geträumt, das ist alles. Mein Schreien klingt schlimmer, als es wirklich ist. Ich bin kerngesund. Wie spät ist es denn? Wie weit haben wir noch zu fahren?«

      »Es ist um die Mittagszeit. Wir brauchen noch eine halbe Stunde bis zur Stadtmitte. Sie wollten doch im ›Prince and Carriage‹, nicht im Haus der Medways übernachten. Mr Argyle wird sich vermutlich in der Fleet Street bei der Arbeit aufhalten, Mylady.«

      Jasmin hob ihre Wasserflasche, die sie immer noch fest in der Hand hielt, an den Mund und trank daraus. Ihre Hände zitterten.

      »Ich beziehe mein Zimmer, und nach einem guten Nachtschlaf bin ich wieder frisch. Du kümmerst dich um alles Weitere. Morgen gehe ich zu Fuß zur Fleet Street, da brauche ich keine Kutsche, Du kannst dich ausruhen. Ich … ich werde immer ruhig, wenn ich bei Hubertus bin.«

      Adam nickte grimmig, stieg aus der Kutsche, sprang auf seinen Sitz, wartete, bis Nancy auf den Nebensitz gestiegen war, und trieb die Pferde in einen schnellen Trab. Ihre Hufe hallten auf dem Kopfsteinpflaster.

      Bald rissen neue Geräusche Jasmin aus ihren dunklen Grübeleien. Passanten huschten in immer dichteren Mengen auf den Gehsteigen vorbei. Die Luft war erfüllt von den Rufen der Hansomfahrer, dem Klappern der zahlreichen Räder, dem Schimpfen der Bauern auf ihren Fuhrwerken und den Schreien der Bettler nach Almosen. Eine große Traube ungeduldiger Passanten drängte sich zur Straße, als ein Pferdeomnibus anhielt. Taschendiebe witterten Beute und flitzten hin und her auf der Suche nach unbewachten Portemonnaies, krochen zwischen den Beinen der stampfenden Pferde hindurch, versteckten sich hinter den Rädern. Das leuchtende Rot von Soldatenuniformen stach hier und dort aus der Menge heraus. Alles in allem war hier eine sich ständig bewegende Masse von Menschenschicksalen mitten in einem riesigen Durcheinander von Lärm und Geräusch.

      Sie waren in London angekommen.

Ornament

      »Sie können gehen, Limbrose. Rufen Sie Mr Trentham zu mir hoch, ich muss vor Feierabend mit ihm reden.«

      »Yes, Sir.« Mr Limbrose neigte seinen Kopf und verließ den Raum. Die Aufgabe, Mr Trentham vorzuladen, erwies sich als überflüssig, da dieser schon die Treppe hocheilte und einen frontalen Zusammenstoß mit Mr Limbrose knapp vermeiden konnte.

      »Boah, Trentham, so eilig? Wir kommen in die Jahre, mein Freund. Auch Sie sind kein junger Springhase mehr.«

      »Ich habe es eilig, Limbrose. Keine Zeit für Geplauder.«

      Mr Trentham hatte sich bereits an Mr Limbrose vorbeigeschoben und sprang die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal.

      »Geben Sie bloß acht, Trentham, unserem Meister ist eine Laus über die Leber gelaufen«, rief ihm Limbrose hinterher. Er schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinunter zum Haupteingang des Zeitungshauses Argyle & Johnson.

      Als er das Haus verließ und die Treppe zur Straße hinunterging, stieß er beinahe mit einer jungen Frau zusammen, die auf dem Gehweg stand und stirnrunzelnd zu den oberen Stockwerken des Hauses hochblickte.

      »Entschuldigen Sie, kennen wir uns irgendwoher?«, fragte er.

      »Ich wüsste nicht, woher«, antwortete sie, ohne ihn anzuschauen. Sie huschte an ihm vorbei auf die Steintreppe zu, die er gerade heruntergekommen war.

      Sosehr Jasmin gehofft hatte, dass die Flucht aus Kebworth sie vom Grauen ihrer Albträume erlösen würde, sosehr musste sie erschrocken erkennen, dass das Gegenteil der Fall war. Sie waren in das Gasthaus »Prince and Carriage« eingekehrt. Wie anders war ihre Stimmung jetzt.

      Weit entfernt war die ausgelassene Freude, die bei ihrem letzten fröhlichen Aufenthalt in London geherrscht hatte! In der Nacht nach ihrer Ankunft hatte sie wieder geträumt, sich schweißgebadet im Bett aufgerichtet, den Schrei unterdrückt, der in ihrer Kehle aufgestiegen war. Dieses Mal hatte sie wieder den Aufschlag aufs Wasser gehört, nachdem ihre Mutter von der Brücke gesprungen war. Das hämische Lachen eines Mannes ertönte anschließend von irgendwoher. Sie sprang ihrer Mutter nach und stellte sich auf ihr Ende ein, hoffte, dass es schnell ginge. Ihr Gesicht schlug auf die Wasseroberfläche auf. Dann wachte sie auf. Wie viel schlimmer konnten die Träume noch werden? Würde es eines Tages kein Aufwachen mehr geben? War das die eigentliche Wirklichkeit ihres Lebens und das andere nur ein Traum?

      Jetzt ruhten all ihre Hoffnungen auf Hubertus. Sie war bis zur Erschöpfung ermüdet. Ihr Kopf kannte nur noch einen Gedanken: ihn so schnell wie möglich irgendwo zu entdecken. Sich in seine Arme zu werfen und dort Schutz vor den dunkeln Pfeilen zu finden, die von allen Seiten in ihre Seele eindrangen. Sie versuchte, in Adams Anwesenheit ihren Kummer zu überspielen und sich betont fröhlich zu geben. Am späten Nachmittag würden sich bestimmt die Sekretäre, Berichterstatter und Schriftführer von Argyle & Johnson auf den Weg nach Hause machen und Hubertus wäre hoffentlich allein in seinem Dienstraum. Aber was, wenn er gar nicht da wäre? Und falls er doch da wäre, wie würde sie beginnen zu erzählen?

      Nun stand sie vor der Steintreppe. Sie zögerte. Ein Stimmengewirr war durch das offene Fenster von einem der oberen Stockwerke zu hören. Es fing an zu nieseln. Sie wandte ihr Gesicht von dem lästigen Herrn ab, der sie begrüßt hatte und sie zu kennen meinte, hob ihren Rock hoch und stieg die Treppe hinauf. Die Tür ging mühelos auf. Sie betrat das große Haus. Obwohl sie auf Zehenspitzen lief, hallten ihre Tritte auf den Marmorfliesen in der Eingangshalle wider. Vor ihr führte eine Holztreppe in die oberen Stockwerke. Alles duftete nach Poliermittel und nagelneuem Holz. Sie konnte sich nicht erinnern, dass dieser Teil des Hauses mit Marmor gefliest gewesen war. Auch nicht, dass die Treppe aus edlem Mahagoni war. Sie war nur einmal hier gewesen. Kurz vor dem Verlobungsfest hatte Hubertus ihr und ihrem Vater das Haus voller Stolz gezeigt. Die Fliesen waren wohl seitdem frisch gelegt und das Holz erneuert worden. Oder sie war damals in ihrer Verliebtheit so betört gewesen, dass ihr solche Einzelheiten nicht aufgefallen waren. Das Treppengeländer war mit feinen Schnitzereien verziert, Motive von winzig kleinen Federn, Tintenfässern, verschnörkelten Buchstaben. Auf den Stufen waren weder Kratzer zu sehen, noch war die Farbe verblichen. Also doch neu. Ganz sicher waren hier noch keine Armeen von Sekretären, Postboten und Paketlieferanten Hunderte von Malen hoch- und runtergegangen.

      Es war hier unten im Haus ruhig. Hinter einer verschlossenen Tür las