Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicola Vollkommer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783775175159
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Arbeitsraum von Mr Argyle sich im Erdgeschoss befand. Zögerlich klopfte sie an die Tür. Keine Antwort. Auch nicht, nachdem sie ein zweites Mal lauter geklopft hatte. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich also bestätigt. Er war nicht im Haus. Sie ließ ihre Hände fallen und kämpfte mit den Tränen. Die Stimmen im oberen Stock, die sie von draußen gehört hatte, wurden plötzlich lauter. Aus dieser Entfernung konnte sie sie nicht voneinander unterscheiden, klar war nur, dass es Männerstimmen waren. Wie von einer magischen Kraft geschoben, stellte sie einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe, die nach oben führte. Sie erschrak, als das Holz quietschte, und sprang auf die nächste Stufe, dann auf die nächste und wieder auf die nächste.

      »Das Gebäude ist geschlossen, Ma’am. Keine Kunden mehr nach fünf Uhr. Oder suchen Sie den Kommissar?«

      Jasmin zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Ein kleiner Mann mit einer Brille auf der Nase streckte seinen Kopf durch eine Türöffnung, die sie beim Betreten der Vorhalle nicht gesehen hatte. Offensichtlich das Gesicht hinter der Stimme, die einen Text in irgendeinem Raum neben der Halle vorgelesen hatte.

      »Ich … ich bin keine Kundin. Privatbesuch. Ich suche Mr Argyle.« Ihre Stimme zitterte.

      »Zeugenaussage, Ma’am?« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Dann dürfen Sie hoch. Nur Zeugenaussagen. Der Herr Polizeihauptmann ist schon abgezogen, Leiche mitgenommen, es gibt keinen Tatort mehr.«

      Der kleine Mann lachte höhnisch, es klang fast schadenfroh. Jasmins Blut gefror in den Adern. Ihr kam auf einmal ein schrecklicher Gedanke. Zeugenaussagen? Ein Polizeihauptmann? Träumte sie noch? War diese Szene die Fortsetzung ihres Albtraums? Würde sie aus einem neuen Traum schreiend und zitternd erwachen? Es fühlte sich so unwirklich an. Die Stille, der Marmor, das Mahagoni, das geschnitzte Geländer, die Atmosphäre. Das alles gehörte doch zu der Welt, aus der sie geflüchtet war, nicht zu der fröhlichen Welt der Liebe und des Lachens, die sie suchte. Ein Wassereimer fiel ihr auf, der wie ein Fremdkörper auf der Treppe stand. Ein leichter Geruch von Branntkalk stieg von ihm auf und mischte sich mit dem Duft des polierten Holzes. Er kam ihr bekannt vor. Plötzlich wusste sie, warum. Es war der gleiche Geruch, der im Schlafgemach ihrer Mutter hing, als diese aufgebahrt auf ihrem Bett lag. Ellen schüttete immer Mengen von Branntkalk und Holzasche ins Putzwasser, wenn ein Boden besonders gründlich geschrubbt werden musste.

      An jenem Tag damals hatte es auch Zeugenaussagen gegeben, auch einen Kommissar und einen Polizeihauptmann. Es stimmte also. Ihre Flucht hatte sie nur tiefer in die Welt ihrer Albträume hineingezogen. Vielleicht gab es jetzt kein Entkommen mehr. Vielleicht steckte sie in dem Traum fest, und alles in ihrem Leben war nun Teil der schrecklichen Kette von Ereignissen vor über einem Jahr, die ihre Seele vollends zu erobern drohten.

      »Folgen Sie nur den Stimmen, Ma’am!«

      Es gab nur einen Weg: die Flucht nach vorne. Oder vielmehr: nach oben.

Ornament

      »Guten Tag, Sandford! Nehmen Sie Platz.«

      »So eine ernste Miene heute, Beechwood?«

      Mr Beechwood stieß mit seinem Zeigefinger auf die Zeitung, die auf seinem Lieblingstisch im »Kingston Arms« ausgebreitet vor ihm lag.

      »Na, lesen Sie wieder die Hofnachrichten? Wer hat sich jetzt verlobt?«

      »Schön wäre es, Sandford! Heute lese ich über die neuesten Verbrechen. Haben Sie es noch nicht gehört?«

      Mr Sandford ließ sich im Sessel gegenüber von seinem Freund nieder. Mr Beechwood lehnte sich über den Tisch und schaute ihn mit einem ernsten Blick an.

      »Dieses Mal direkt vor der Haustür.«

      »Was, vor der Haustür? Vor welcher Haustür?«

      »Fellham. Mitten in der Nacht. Fleet Street. Einen Katzensprung von Argyle & Johnson entfernt.«

      Mr Sandford biss sich auf die Lippen, zog die Zeitung auf seine Seite des Tisches und schob seine Brille auf dem Nasenrücken hoch.

      Es war eine Weile still, als er die Zeilen zunächst flüchtig überflog, danach seine Brille abnahm, sein Vergrößerungsglas aus der Tasche holte und den Text erneut anstarrte. Mr Beechwood kaute eine Weile an seiner Zigarre. Irgendwann zog er daran und blies anschließend den Rauch in kleinen Kringeln in die Luft.

      »Trentham hat mit seinem Bericht aber ganze Arbeit geleistet«, sagte Mr Sandford schließlich, bevor er die Zeitung wieder auf den Tisch legte und seine Brille wieder aufsetzte.

      »Na ja, für reißerische Schlagzeilen nicht schlecht«, antwortete Mr Beechwood. »Aber über diese Art von führender Schlagzeile wird sich Argyle & Johnson bestimmt nicht freuen.«

      »Wer war das Opfer?«

      »Ach, irgendeine arme Kirchenmaus, die halb besoffen auf der Straße herumstreunte. Niemand von Bedeutung.«

      »Und dieser niederträchtige Schurke ist wieder davongekommen?«

      »Klar. Er kommt immer davon. Was erwarten Sie denn sonst, Sandford? Er hat den Teufel in Person als Leibwächter.«

      »Für immer kann es nicht so weitergehen. Fast hat man ihn bei der letzten Tat erwischt. Der Kommissar ist ihm dicht auf der Spur, heißt es in dem Bericht.«

      »Das war er anscheinend schon das letzte Mal, Sandford. Für diese arme Kreatur hat es leider nicht gereicht. Ihr Bier – Sie haben es vor lauter Aufregung vergessen.«

      Mr Sandford nahm einen Schluck, wischte den Bierschaum von seinem Schnurrbart und schüttelte den Kopf. Er hob die Zeitung noch einmal auf und starrte die Schlagzeile an.

      »Das Grauen rückt immer näher. Fellham wird fahrlässiger«, las er vor. »Aber es hat sein Gutes. Beim nächsten Mal wird er mit Blut an den Händen bei frischer Tat ertappt und verhaftet werden. Indizien zum Verbleib und zu den Unternehmungen des Mörders mehren sich. Nicht wenige Bewohner Londons werden mit Erleichterung aufatmen, wenn das Seil um den Hals dieses Verbrechers sich endlich festschnürt.«

      »Na, dann hoffen wir, lieber Sandford, dass diese Misere bald zu Ende ist! Trübsal blasen bringt nichts! Noch ein Bier?«

      »Ich frage mich nur, wie viele Opfer es noch geben wird.«

      »Sicher nicht viele. Mr Argyle war wohl nicht gerade erfreut, dass er bei seiner Ankunft heute Morgen von einer Blutlache auf dem Gehweg und einem Polizeihauptmann vor seiner Tür begrüßt wurde. Verbrechen wird erst dann zum Verbrechen, wenn es in die Nähe der wichtigen Leute kommt. Ich sehe jetzt einen Hoffnungsschimmer. Sobald es die Regierenden trifft, wird gehandelt. Die Fleet Street ist eine gute Zwischenstufe.«

      »Wie können Sie nur so eiskalt sein, Beechwood? Ein Mann ist tot. Irgendwo trauert eine Witwe und fragt sich, wovon sie ihre Kinder ernähren soll.«

      Mr Beechwood hob eine Augenbraue und spitzte seinen Mund.

      »So betroffen wie heute kenne ich Sie gar nicht.«.

      Mr Sandford lehnte sich über den Tisch und nahm eine Zigarre aus der Schachtel, die sein Freund ihm gereicht hatte.

      »Ich habe eine Frau und zwei junge Kinder zu Hause, Beechwood. Und nicht weit von hier. Fellham zieht seine Kreise immer enger. Da wird es jedem anständigen Familienvater flau im Magen, finden Sie nicht auch?«

      »Wir wissen nicht mit absoluter Sicherheit, ob er es war.«

      Als Antwort stieß Mr Sandford wieder auf die aufgeschlagene Seite des Tageblattes Argyle & Johnson.

      »Fellham hat wieder seine Unterschrift hinterlassen. Das Opfer lag auf dem Rücken, sein Brustkorb war kaum mehr als Brustkorb zu erkennen …«

      »Lassen Sie lieber, Sandford«, unterbrach ihn Mr Beechwood mit einer abwehrenden Handbewegung. »Ich will keine weiteren Einzelheiten hören, jetzt wird es auch mir kalt im Rücken. Genießen wir lieber unsere Zigarre.«

      Die