»Noch eine Stunde, bis die Dienstagausgabe für den Druck fertig sein muss«, murmelte er. Er kritzelte immer schneller, immer hektischer, so als ob sein Leben davon abhinge. Nach einer halben Stunde schob er seinen Stuhl nach hinten, erhob sich und goss sich etwas Wasser aus einem Krug ein, der auf einem Seitentisch stand. Er begutachtete seine Arbeit mit Genugtuung. Als er Schritte an der Tür hörte, schrak er kurz zusammen, fuhr sich mit der Hand durch die feuchten Haare und stellte seine nassen, von Schlamm bedeckten Schuhe in die dunkelste Ecke des Raumes.
»Na, schon fertig, Trentham?«
»Ach, Limbrose, Sie sind es. Noch nicht Feierabend?«
»Nein, die restlichen Texte sind gesetzt, aber Ihrer fehlt noch.«
Mr Trentham deutete mit einer Hand auf die voll beschriebenen Bögen.
»Kann ich selber machen. Eine halbe Stunde noch. In Italien will man eine Maschine erfunden haben, die schreiben kann. Das wäre grandios, Limbrose. Zeit ist Geld!«
Er hob mit einem nervösen Kichern sein Glas.
»Ich habe schon erste Anfragen nach Italien geschickt, Limbrose. Mit so einem Gerät sichern wir unseren Vorsprung vor der Times und bleiben die erste Adresse in der Fleet Street, und zwar in allen Sparten, nicht nur bei den Verbrechernachrichten!«
Limbrose lachte.
»Ein Gerät, das Texte setzt, das wär das, was wir bräuchten. Und ich sitze dann daneben und trinke Bier!«
»Oder Sie sind Ihre Arbeit los, Limbrose. Tja, wozu Maschinen alles fähig sind. Irgendwann erfinden wir Maschinen, die nicht nur arbeiten, sondern auch für uns denken, rechnen, Gedankengut in der ganzen Welt im Nu verbreiten. Es lebe der Fortschritt!«
»Wenn das nicht Hoffnung auf Frieden auf Erden macht! ›Waterloo – die letzte große, blutige Schlacht in der Geschichte der Menschheit‹, das wäre eine Schlagzeile, auf die zu warten sich lohnt!«
»Friede – pah! Bleiben wir doch auf dem Boden, Limbrose. Zu viel Friede auf Erden bringt uns um unsere Umsätze. Das Wettrennen um die Auflagen geht weiter. Der zweite Platz in der Rangordnung war Mr Argyle lange ein Dorn im Auge. Die Times spuckt 50 000 Blätter aus, seit sie unserem Beispiel folgt und die Druckmaschine eingeführt hat. Es bleibt ein Kopf-an-Kopf-Rennen.«
Mr Limbrose warf einen Blick auf das fertige Blatt und stieß einen Pfiff aus.
»Mein lieber Mann. Saubere Arbeit, Trentham!«
Er bückte sich und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Schlagzeile.
»Sagen Sie mal: Der Mord ereignete sich vor sechs Stunden! Sie haben die Nachricht schon wieder als Erster mitbekommen, was? Mit welchem Zauber arbeiten Sie bloß?«
Mr Trentham leerte sein Glas und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.
»Ach Quatsch, Limbrose. Beim letzten Mord hat der Courier um einige Stunden das Rennen gewonnen.«
Er zog seine Mundwinkel zusammen und füllte sein Glas aus dem Wasserkrug.
»Ein guter Riecher für aufsehenerregende Vorfälle, etwas Geschick und die Bereitschaft, stundenlang bei strömendem Regen in irgendeiner Hecke zu hocken, dann hat man schon eine Schlagzeile! Und in der nächsten Ausgabe den Kupferstich dazu.«
»Deine guten Verbindungen zur Themse-Wache sind wohl Zauber genug. Aber so ist London eben. Hier und da nützliche Verbindungen, eine hochwertige Berichterstattung und die gesamte Auflage ist im Nu verkauft. So wenig für so viel!«
»Na, dann lassen Sie mich weiterarbeiten.« Mr Trentham grinste. »Und hoffentlich sind wir nicht ohne Arbeit, wenn dieser Dreckskerl Fellham endlich gefasst wird!«
»Keine Sorge, da stehen die Nächsten schon bereit, um Blut auf die Straßen Londons zu kippen. Ich komme in einer halben Stunde wieder, um Mr Argyles Kolumne zu holen.«
Mr Trentham nickte, tunkte seine Feder in das Tintenfass und fing erneut an zu schreiben, als Limbrose durch die Tür verschwand.
Und wieder eine Nachricht, die man nicht gern liest. Aber an solche Nachricht müssen sich die Bürger dieser Stadt offenbar leider gewöhnen, schrieb Mr Trentham wenige Augenblicke später. Er warf einen Blick auf einen alten Zeitungsartikel, der neben ihm auf dem Schreibtisch lag, und schrieb den Text sorgfältig auf ein neues Blatt ab. Nur hier und da fügte er eine geringfügige Änderung ein. Zeitungsleser waren zum Glück vergesslich, und Mr Argyles Gedanken hatten sich seit dem letzten Mord nicht geändert.
… und wieder muss ein Mensch in der Blüte seiner Jahre sinnlos sterben. Und wieder deuten alle Merkmale auf Marvin Fellham. Große Verlegenheit für die Themse-Wache. Das Militär wird nun in die Fahndung miteinbezogen. Alle Ordnungshüter müssen sich jetzt der Frage stellen, warum ein Mörder, der sich nicht einmal die Mühe macht, seine Spuren zu verwischen, nicht gefasst wird.
Lord Liverpool wird sich nach seinen Erfolgen auf dem Kontinent und in den Kolonien nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen können. Innenreformen und vorbeugende Maßnahmen gegen Verbrechen und Anarchie auf den Straßen der Großstädte sind dringend notwendig.
Derweil müssen wir uns auf das übliche Ritual einstellen. Die Öffentlichkeit wird wieder zu hören bekommen, dass alles Mögliche unternommen wird, um dieses Monster zu finden. Wir werden wieder aufgefordert werden, unseren Alltag normal weiterzuführen, uns wird wieder versichert werden, dass mehr Schutzmänner auf die Straßen entsandt werden. Irgendwann ist der Skandal in den Hintergrund gerückt, keiner denkt mehr daran – bis der Verbrecher erneut zuschlägt. Dann geht das Spiel wieder von vorne los. Die gleichen Ängste, die gleichen Erklärungen, die gleichen Versprechungen. Aber irgendjemand weiß etwas, das ist sicher. Deshalb bittet auch diese Zeitung die Öffentlichkeit dringend, mit offenen Augen und Ohren durch die Gegend zu gehen und Auffälligkeiten sofort der Wache zu melden.
Mr Trentham hörte auf zu schreiben, hob das Blatt hoch und überprüfte sein Werk.
»Das wird ihm gefallen«, sagte er vor sich hin, nickte, setzte die Worte Mr Hubertus Argyle, Herausgeber unter den Text, schüttete Sand auf die nasse Tinte und wartete, bis sie trocken war.
Jasmin klopfte ihre Kissen zurecht, türmte sie am Kopfende des Bettes auf und lehnte sich auf das weiche Polster zurück, bevor sie ihre Bettdecke über sich zog und die letzten Zeilen von Hubertus’ Brief las. Er beschwor ihr seine Liebe und versicherte ihr, dass sie ihren Hund Julius für die Wochen, die sie in der Großstadt verbringen würde, nach London mitbringen konnte. Er fand es lustig, dass sie ihren Hund auf »Julius« umbenannt hatte, nachdem sie entdeckt hatte, dass jeder zweite Hund in der Nachbarschaft ebenfalls auf seinen ursprünglichen Namen »Caesar« antwortete. Weiter schrieb Hubertus, er würde etwas Pomade in das zweite Blatt reiben, damit sie ja nicht vergäße, wie sich seine Nähe anfühle. Und sollte ihr hübscher Kopf durch irgendetwas beschwert sein, bräuchte sie nur in eine Kutsche springen, nach London reisen, und er würde alles stehen und liegen lassen, sie in seine Arme schließen und all ihre Sorgen im Nu wieder wegküssen. Jasmin faltete den Brief zusammen und machte die Augen zu.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu ihrer ersten Begegnung mit Hubertus ein Jahr zuvor. Ihr Vater, großzügig wie immer, hatte den reisenden Zeitungsmann und seinen Begleiter nach Kebworth Place eingeladen, damit sie den ersten Abend ihres Aufenthalts in Yorkshire nicht in einer Herberge verbringen mussten. Hubertus war damals auf der Durchfahrt nach Keighley, wo er über die Unzufriedenheit der Arbeiter in den Textilfabriken berichten wollte. Typisch Vater. Ob er seinen Ruf durch Verbindungen zu gewöhnlichen Geschäftsleuten nicht noch mehr beflecken würde, hatte der Landadel gespöttelt. »Wenn es ein Mensch ist, ist er nach dem Ebenbild Gottes geschaffen und damit für mich adelig«, hatte Lord Medway gekontert.