»Na ja, hoffen wir, dass nicht zu viele nichts ahnende Opfer bis dahin mit dem Leben bezahlen müssen.«.
Die beiden Herren standen inzwischen draußen auf der Straße. Lord Medway hob seinen Hut zum Abschied und stieg in den Hansom ein, den er hergewunken hatte. Bevor der Fahrer die Tür zuschlug, lächelte er Mr Argyle an.
»Aus Ihrem Munde die Worte ›meine liebe Jasmin‹ zu hören, klingt wie Musik in meinen Ohren, mein lieber zukünftiger Schwiegersohn!«
Hubertus verbeugte sich und wartete, bis der Einspänner auf dem unebenen Kopfsteinpflaster davongerumpelt war, zupfte sein Halstuch zurecht und ging in Gedanken versunken zügig zurück zur Fleet Street.
»Jasmin! Was ist mit dir? Wach auf! Schnell!«
Ellen schüttelte das schlaftrunkene Mädchen, das halb liegend neben ihr in der Kutsche saß.
»Nicht einmal ein bisschen Schlaf vergönnst du mir?«, nörgelte Lady Jasmin. Sie stieß Ellen von sich.
»Von wegen Schlaf, Kind. Du hast geschrien wie eine Irrsinnige. Das musst du dir abgewöhnen, bevor du dein Bett mit einem Mann teilst. Jeder Mann, der etwas auf sich hält, liefert dich ins Irrenhaus ein, wenn er so ein Geschrei hört!«
»Ellen, wie kannst du nur so unwirsch sein?«, schrie Lady Jasmin. Sie war plötzlich hellwach. »Ich bin nur aufgeschreckt worden, weil die Kutsche hin und her schaukelt! Wann werden diese Straßen endlich ordentlich instand gesetzt? Und dann noch der Wind! Man muss ja brüllen, um die eigene Stimme zu hören. Da tobt ein Orkan draußen, und du hast mir versprochen, dass das Wetter für die Heimreise wieder gut wird! Und warum ist Vater nicht mit uns mitgereist?«
»Du kennst die Antwort auf all deine Fragen selber, mein Kind. Nicht mal ich habe Macht über das Wetter. Als wir vor zwei Tagen in London losgefahren sind, war es sonnig. Jetzt hat uns das raue Klima des Nordens wieder eingeholt. Und dein Vater hatte in London noch zu tun. Du hast geschrien, als ob du von wilden Tieren gejagt würdest. Hast du wieder schlecht geträumt?«
Lady Jasmin wischte mit einer Hand die beschlagene Fensterscheibe ab und blickte auf die Hecken und Wiesen, die im dichten Abendnebel vorbeiglitten. Die Äste der großen Bäume wurden von dem rauen Wind hin und her geschleudert, und hin und wieder landete ein Zweig, der sich losgerissen hatte, mit einem dumpfen Schlag auf dem Dach der Kutsche. Jasmin drehte sich zu Ellen hin, packte ihren Arm und schaute sie mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ellen, es waren wieder die Albträume. Sie stand auf der Brücke, sie wippte hin und her. Es war wieder was Neues dabei.«
»Was? Erzähl mir doch, Kind!«
Jasmins Stimme zitterte.
»Eine Stimme hinter ihr rief direkt in ihr Ohr: ›Spring, spring!‹«
Ellen legte ihren Arm um Jasmins Schulter, drückte das schluchzende Mädchen fest an sich, fuhr mit der Hand durch ihre verschwitzten Haare und strich mit einem Finger über die feuchten Wangen.
»Hier, ein Taschentuch. Dein Gesicht ist glühend heiß. Es ist sicher die Aufregung von den Festlichkeiten oder die Aussicht auf die kommenden Umbrüche, was dich plagt!«
Jasmin wischte ihr feuchtes Gesicht mit dem Tuch, das Ellen ihr gereicht hatte, und schnäuzte sich. Ihre Tränen ließen nach.
»Woher kommen die Bilder bloß? Ich war doch nicht dabei, als es geschah. Aber ich sehe meine Mutter vor mir, echter als im wahren Leben. Schwere Wolken jagen vor dem hellen Mond vorbei. Der Wind pfeift eiskalt über den Wald. Ich sehe ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, ihre wilden Augen, ihre Haare, die zerzaust und ungekämmt um ihr Gesicht fliegen. Das weiße Nachthemd mit dem gelben Blumenmuster am Saum flattert um ihre Beine. Ich höre das Krachen der Äste, ich höre ihre Stimme. Sie schreit: ›Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!‹ Und das Allerschlimmste, Ellen …«
»Was ist das Allerschlimmste, mein Kind?«
Ellen küsste Jasmin sanft auf die feuchte Wange.
»Das Allerschlimmste ist, dass sie jedes Mal meinen Namen ruft. Ich versuche, zu ihr zu gelangen, ich strecke meine Hand zu ihr aus. Und gerade als ich sie erreiche, ist sie fort. Ich rufe nach ihr, und sie antwortet nicht. Ich höre nur das Plätschern des Wassers auf den Felsen unten am Flussufer. Und dann sehe ich eine menschliche Gestalt, das Gesicht nach unten, sie dreht sich im Wasserstrudel, ihr Nachthemd bläht sich auf um sie herum …«
Sie erschauderte. Eine plötzliche Windstille unterbrach das Toben des Sturms.
»Pssst, ruhig, mein Kind«, flüsterte Ellen, die immer noch eifrig versuchte, lose dunkelblonde Strähnen aus Jasmins Gesicht zu streichen.
»Ellen, meine Träume sind echter als das Leben selber. Ich fühle tiefer, ich heule lauter. Die Farben sind greller, die Stimmen schärfer, die Sonne heißer, der Winter kälter. Als ob dieses Leben der Traum wäre, und meine Träume das eigentliche Leben.«
»Weiß Mr Argyle von den Albträumen, die dich plagen, meine Liebe?«
Jasmin wandte ihr Gesicht von Ellen weg und blickte auf die schwarzen Wolkenfetzen, die über den grauen Himmel huschten. Eine Windböe versetzte der Kutsche einen plötzlichen Stoß. Adam, der Kutscher, schimpfte laut, eins der Pferde sprang auf und wieherte. Ellen packte Jasmins Arm und hielt sie fest, bis die Kutsche aufgehört hatte, hin und her zu schaukeln.
»Ich habe es immer wieder versucht«, sagte Jasmin. »Aber du sollst wissen, wir waren nicht oft zusammen. Ich meine, nicht oft alleine. Einmal habe ich angefangen, von meinen Träumen zu reden.«
»Und? Was hat er dazu gesagt?«
Jasmin zögerte.
»Ich bin nicht weit gekommen«, sagte sie. »Er hat mich in den Arm genommen, geküsst, gesagt, wie bezaubert er von meinem perlenden Lachen sei, von meiner Ausstrahlung und meinen Grübchen, von meinen weichen Locken. Sobald er anfängt, mich mit den großen, dunklen, männlichen Augen anzulächeln, weiß ich, dass alles gut werden muss! Wie beim ersten Mal, als wir uns begegnet sind. Es ist, als ob er alles schon wüsste, was mich in den Nachtstunden plagt. Ich habe das Gefühl, ich muss ihm nichts erzählen. Wann immer ich in seiner Nähe bin, verschwinden die Bilder, die Erinnerung an die Träume ist wie ausgelöscht. Wenn ich mit ihm verheiratet bin und er immer bei mir ist, dann kommen sie sicher nicht mehr vor.«
Ellen schwieg eine Weile.
»Dass seine Nähe so eine beruhigende Auswirkung auf deine Seele hat, muss etwas Gutes sein«, sagte sie schließlich. »Schau, das Schild mit ›Thistle Grove‹ neben der Weißdornhecke. Gerade noch in der Dämmerung sichtbar. Bald sind wir zu Hause!«
Meine bezaubernde Jasmin!
Wie oft habe ich deine lieben Zeilen gelesen! Heute, gestern, vorgestern. Und an all den Tagen, die seit der Ankunft deines Briefes verflossen sind. Jedes Wort hat sich in meiner Seele eingenistet. Verzeih mir bitte, dass ich erst heute eine Antwort verfasse. Ich wollte mir für eine so wichtige Aufgabe die Zeit nehmen, die deiner lieben Worte würdig ist. Deinen Brief habe ich überallhin mitgenommen. Ich habe ihn in die Brusttasche meiner Weste geschoben, denn an meiner Brust kann er jeden Herzschlag hören. Es war mir, als ob dein süßer Kopf dort liegen würde – dort, wo er hingehört und wo er in Bälde jede Nacht liegen wird. Wie sehr zähle ich die Monate, Wochen, Stunden, bald die Minuten! Die Wochen unserer Trennung kommen mir viel zu lang vor.
Jasmin errötete und seufzte. Sie legte den Briefbogen auf die Lehne ihres Sessels, erhob sich und ging zum Fenster, das in der warmen Frühlingssonne offen stand. Sie lehnte sich hinaus, stützte ihre Arme auf den Fenstersims und hielt ihr Gesicht in die Sonnenstrahlen, die durch die Blüten der Kastanienbäume hindurch einen goldenen Schimmer auf die hellbraunen Steine des Herrenhauses warfen.