„Cristiano ist so stark, wie er aussieht.“ Ich schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen. „Wenn er aufwacht und ich nicht hier bin, wird er selbst nach mir suchen.“
Mit dem Ärmel ihres langen Shirts wischte sie sich Schweiß von der Schläfe. „Du könntest … du könntest ihn töten.“ Sie zuckte zusammen und sprach schnell weiter. „Wir könnten uns etwas einfallen lassen. Gift, Überdosis, im Schlaf ersticken und entkommen, bevor sie herausbekommen, dass wir es waren.“
Ich biss mir in die Innenseite der Wange. Ich verstand Pilars Sichtweise. Während der letzten vierundzwanzig Stunden war sie von Alejandro entführt und zu einem Ort gebracht worden, von dem man sich erzählte, dass er frauenfeindlich sei und von einem Mann beherrscht werden würde, vor dem sie seit ihrer Kindheit Angst hatte, nachdem sie mitbekommen hatte, wie er ihren Cousin verprügelt hatte. Und sie hatte einen Angriff miterleben müssen, bei dem sie leicht hätte getötet werden können.
Seit Cristiano wieder aufgetaucht war, hatte der Mann, den sie El Polvo nannten, sie im La Madrina von der Tanzfläche gescheucht, sie gezwungen, bei unserer Hochzeit gegen meinen Willen beizuwohnen und dann angeordnet sie hierher bringen zu lassen. Aber das Schlimmste hatte sie von mir gehört. Pilar war eine der wenigen Menschen, denen ich mich nach dem Tod meiner Mutter anvertraut hatte. Cristiano hatte Unverzeihliches getan. Was sagte es über mich aus, dass ich nicht den Wunsch hatte, abzuhauen? Dass ich die erste Person sein wollte, die er sah, wenn er die Augen öffnete? Dass ich nicht einmal mehr versuchen wollte, meine Gefühle für ihn vor Pilar zu verstecken. Oder vor ihm. Oder mir selbst? Vor niemandem.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, was das über mich aussagte. Denn ich hatte schon einmal den Fehler gemacht, einem Mann blind zu vertrauen. Diego. Ich hätte alles für ihn getan. Und das hatte ich auch. Worin lag jetzt der Unterschied? Ich wusste es nicht.
Aber der Gedanke, Cristiano zu verlieren, hatte mir gezeigt, dass ich noch nicht bereit war, mich von ihm zu verabschieden. Trotz allem, was wir durchgemacht hatten, waren er und ich erst dabei, uns gegenseitig kennenzulernen. Die Aussage meines Angreifers, dass mein Ehemann tot sei, hatte mich dazu angespornt, für mein eigenes Leben zu kämpfen. Damit ich seins rächen konnte. Ich hatte Cristiano meine Treue und Loyalität geschworen, und ob ich es zu dem Zeitpunkt schon gewusst hatte oder nicht, ich hatte es aufrichtig gemeint. Cristiano hatte Unverzeihliches getan. Ja. Aber er hatte auch Bewundernswertes vollbracht. Er hatte sich selbst in Gefahr gebracht, um mir einen Abschluss zu verschaffen. Außer bei den Fragen über die Umstände vom Tod meiner Mutter hatte er mir immer die Wahrheit gesagt. Egal wie brutal sie war. In vielerlei Hinsicht hatte er mir Stärke gelehrt. Und auch wenn Pilar es nicht wusste, hatte er ihr aus den Schatten heraus ebenfalls geholfen.
„Cristiano hat dich nicht nur hier herbringen lassen, um mir einen Gefallen zu tun. Er hat es getan, um dich vor Manu zu beschützen.“ Ich nahm ihre Hand und drückte sie. „Wusstest du, dass es dein Cousin gewesen ist, der deine Halbschwester vergewaltigt hat?“
Sie keuchte auf. „Nessa? Ja, ich wusste es, aber das sollte die Familie nicht verlassen. Woher weißt du das?“
„Cristiano hat es mir gesagt. Das ist der Grund, warum er ihn damals so verprügelt hatte. Nicht nur fürs Klauen, sondern damit er Nessa nicht mehr verletzen würde, oder besser gesagt konnte.“
Pilar öffnete und schloss ein paar Mal den Mund. „Das … das wusste ich nicht. Bist du sicher?“
„Er hat es mir gestern gesagt.“ Gestern. Als die Dinge noch so anders gewesen waren. Als ich so nah dran war, diese Achterbahn von Beziehung zwischen mir und Cristiano zu entschlüsseln. „Er ist nicht das, was du von ihm denkst. Er hat ein sehr großes Herz da drin, obwohl er versucht, es zu verstecken. Bleib hier mit mir.“ Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Verbringe etwas Zeit mit ihm. Du wirst schon sehen.“
„Wenn du sagst, dass es so ist, dann glaube ich dir.“ Sie kaute an ihrem Daumennagel. „Aber erzähl ihm bitte nicht, dass ich vorgeschlagen habe, ihn umzubringen.“
Ich zog sie in meine Arme. „Würdest du Alejandro fragen gehen, ob es Neuigkeiten gibt?“
„Na klar.“ Sie stand auf, zog sich den Pferdeschanz straff und verließ das Zimmer.
Ich stand auf und faltete die Decke über die Lehne der Couch. Dankbar für den ersten Moment allein mit Cristiano, ging ich zu ihm, setzte mich auf die Seite des Bettes und nahm seine warme Hand in meine. Wir hatten uns schon einmal an den Händen gehalten. Als wir im Auto saßen und beobachteten, wie Sandra um ihr Leben kämpfte. Ein paar seiner Worte kamen mir in den Sinn.
Schlaf gut. Ich werde es, da ich weiß, dass du zu denen gehörst, die ich beschütze.
Ich hatte nichts darauf erwidert. Jetzt schlief er fast zu friedlich. Aber in seinen Händen war Leben zu spüren. Und Blut unter seinen Fingernägeln. Furcht machte sich beim Anblick seiner Wunden in meiner Brust breit. Cristiano war mir immer so unverletzlich vorgekommen. Selbst als er damals vor dem Zorn meines Vaters aus unserem Haus geflohen war, tat er dies unverletzt.
Die Wahrheit war, dass ich mich in einer Welt ohne Cristiano nicht sicher fühlen würde. Und damit meinte ich nicht nur die Kartell-Welt. Er war ein Beschützer. Mein Beschützer. Ich dachte, er wäre mein Feind, aber vielleicht war er das nie gewesen. Meine Gefühle für ihn waren nicht aufgeblüht. Sie waren schon vor einer langen Zeit dort verwurzelt worden. Hatten sich festgesetzt, ohne, dass es mir bewusst gewesen wäre. Ich konnte nicht leugnen, dass ich in meiner dunkelsten Stunde härter gekämpft hatte, nur damit ich zu ihm zurückkonnte. Fühlte er genauso? War er deswegen noch am Leben? Denn eigentlich müsste er tot sein. Alejandro vermutete, dass man ihn unter Drogen gesetzt hatte. Ich hatte vergessen die Ärztin danach zu fragen. Das würde bedeuten, dass der Angriff geplant gewesen war. Belmonte-Ruiz hatte Cristiano zu ihren Füßen gehabt und keinen ernsthaften Schaden angerichtet. Das ergab keinen Sinn.
„Du kannst da nicht schlafen“, hörte ich hinter mir.
Ich sah über die Schulter. Jaz stand im Türrahmen mit einem Arm voller Handtücher, einer grünen Plastikschüssel und einem Schwamm. „Er muss gewaschen werden“, sagte ich.
Sie betrat den Raum. „Deswegen bin ich hier.“
Mein Ehemann, der von einer anderen Frau gewaschen wurde? Niemals. Ich erhob mich von seinem Bett. Unserem Bett. „Ich mache das.“
Sie stellte die Utensilien auf seinen Nachttisch ab und nahm das oberste Handtuch von dem Stapel. „Ich sorge schon seit Jahren für ihn.“
„Das war vorher.“
„Vor was?“, fragte sie und sah nicht von ihren Handgriffen hoch. Sie wusste die Antwort.
„Vor mir.“
Alejandro hatte recht. Vorbei waren die Tage, an denen ich anderen zustimmte. Cristiano brauchte von mir, dass ich meinen Platz einnahm und mich wie seine Ehefrau verhielt. Dass ich mich wie eine Ehefrau um ihn kümmerte und in seinem besten Interesse handelte und Entscheidungen fällte.
„Dir liegt etwas an Cristiano“, stellte ich fest.
Sie hielt inne und ließ das Handtuch neben sich sinken. „Und du hast mehr als deutlich gemacht, dass dir nichts an ihm liegt.“
„Dinge ändern sich. Menschen ändern sich.“
Jaz schüttelte den Kopf. „Die Menschen ändern sich nicht. Umstände schon. Ich vertraue dir nicht allein mit ihm.“
„Und ich vertraue dir auch nicht“, sagte ich. „Du hast gestern mein Telefonat mit ihm belauscht, dann mein Leben bedroht und das nicht zum ersten Mal. Aber du hast mir auch geholfen, mit Pilar in Sicherheit zu kommen.“
Sie zuckte die Achseln, nahm Schüssel und Schwamm und ging zum Badezimmer. „Das habe ich für Cristiano getan“, sagte sie über das Wasserrauschen