„Zum Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach.“
Wir verließen den Lift und betraten eine freiliegende, gut beleuchtete Landeplattform. Das war nicht einmal das Dach. Der oberste Stock des Hauses lag weit unter uns. Es war einfach die endlose, schwarze Nacht auf einer Bergspitze. Ich hatte in diesen Himmel schon früher hochgesehen und mich an den vielen Sternen erfreut. Jetzt waren sie vom Flutlicht ausgeblendet. Wir liefen zu der runden Betonplattform, auf der ein Kreis und ein H in der Mitte aufgezeichnet war. Ein Team aus Männern in Jeans und T-Shirt wartete dort, die Hände in den Hosentaschen und mit heruntergezogenen Augenbrauen.
„Wer sind die?“, fragte ich.
„Das Trauma-Team. Unten kümmert sich bereits mehr medizinisches Personal um die Verletzten.“ Alejo deutete auf eine Frau. „Sie hat hier das Sagen und bereits früher mit Cristiano gearbeitet.“
An meinem Daumennagel kauend, betrachtete ich das Team. Ich kannte bis dahin lediglich sterile Krankenhäuser, weiße Kittel, Stethoskope und Hightech-Apparate. Selbst als mein Vater und Großvater ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hatten, sahen die Doktoren immer sehr professionell aus. Keiner von ihnen hätte jemals eine Ärztin als Chefin zugelassen, auch wenn das gar keinen Sinn ergab.
„Bist du dir sicher? Ich könnte meinen Vater anrufen. Er kennt ganz bestimmt die besten Leute des Landes.“
„Doktor Sosa ist hoch angesehen. Cristiano vertraut ihr.“ Alejandro legte sich die Hand in den Nacken, holte tief Luft und sah dabei nach oben. „Sofern er am Leben ist, wenn sie landen, ist er in guten Händen.“
Ein dumpfes Propellergeräusch ließ uns nach hinten blicken. Am Horizont tauchte ein blinkender Punkt auf. Ich faltete die Hände vor der Brust, während er näher kam. Ich wollte sehen, dass sich Cristianos Brustkorb hob und senkte, wie seine Lippen und Hände lebendig und warm waren, wie sich seine Wimpern bewegten, wenn er diese dunklen, gnadenlosen Augen öffnete, die bei meinem Anblick immer weich wurden.
War das denn zu viel verlangt?
Ich flehte und betete.
Ich hielt mir die Haare zusammen, als der Hubschrauber vor uns in der Luft schwebte. Sobald die Kufen aufgesetzt hatten, kam Bewegung in das Team. Sie öffneten die Tür, griffen hinein und halfen einer Frau mit ellenlangen Beinen in einem kurzen roten Kleid heraus. Bei dem unerwarteten Anblick einer Schönheit mit rotem, lockigem Haar und knallrotem Lippenstift, blieb mir der Mund offen stehen. Das makellose Make-up erweckte den Eindruck, als käme sie gerade von einer Dinnerparty.
„Wer ist das?“, fragte ich.
Alejandro folgte meinem Blick. „Wenn ich raten müsste, könnte das Natasha sein.“
Natasha?
Bei dem Namen rangen alle Alarmglocken in meinem Kopf. Cristiano hatte eine Natasha erwähnt, aber damals klang es eher nach einem One-Night-Stand.
Eine Trage wurde eilig aus dem Hubschrauber auf die Landeplattform gehievt. Bei dem Anblick des leblosen Körpers darauf, setzte mein Herz einen Schlag aus. Cristiano war niemals so still. Ich konnte mich nicht daran erinnern, zu ihm gerannt zu sein, aber plötzlich befand er sich in meiner Reichweite. Hände mit sterilen Handschuhen hielten mich zurück. Männer brüllten mich an, ich sollte zurücktreten. Cristianos aufgerissenes Hemd legte blutdurchtränkte Bandagen um seinen einst so eleganten, jetzt zerfetzten, immer kraftvollen, Oberkörper frei. Während man die Trage rasch auf Rollen über den Beton schob, hopste sein Körper schlaff darauf auf und ab. Sein blasses Gesicht unter der Sauerstoffmaske machte mir Angst.
„Ist er am Leben?“, hörte ich mich fragen.
„Sie müssen zurücktreten“, wiederholte einer der Männer.
Alejandro hielt die Aufzugtüren auf. Ich wollte ebenfalls mit hinein, aber um meinen Ellbogen krallten sich Finger und zogen mich zurück.
„Sie haben gesagt, du sollst Platz machen.“
Als sich die Türen schlossen, drehte ich mich zu der scharfen, weiblichen Stimme und der Besitzerin der Acrylnägel, die mich von Cristiano weggezerrt hatten, um. Wenn sie keine so hohen Schuhe angehabt hätte, die sie in einen Baum in einem obszön kurzen Kleid verwandelten, dann wären wir auf Augenhöhe gelandet.
„Wer sind Sie?“, fragte ich.
Sie ließ meinen Arm los. „Ich bin der Grund, warum Cristiano noch lebt.“
Er lebte.
War sie sich da sicher? Woher wusste sie das? Egal. Es war die einzige Antwort, die ich bisher erhalten hatte, und ich würde sie nicht abweisen. Ich schlug ein Kreuz vor der Brust und dankte still der Lieben Frau von Guadalupe.
„Sie“, sagte die Frau über meinen Kopf hinweg zu Alejandro. „Sind Sie hier der Sicherheitschef?“
„Im Moment, ja.“ Er drückte den Knopf des Aufzugs. „Ich bin Alejandro.“
„Ah, ja. Du hast mit meinem Piloten gesprochen.“ Sie hielt ihm die Hand entgegen. „Natasha Sokolov-Flores. Eine alte Freundin von Cristiano.“
Sie schüttelten sich die Hände und Alejandro deutete mit dem Kopf auf mich. „Das ist Natalia. Cristianos Ehefrau. Sie ist genau wie ich der Kopf des Haushalts, solange Cristiano außer Gefecht gesetzt ist.“
Ich wusste seinen Vertrauensvorschuss zu schätzen, ganz besonders nach Jaz’ Meinung über mich.
Natasha sah mich wieder an. Oder eher meine Ringe. „Ist das klug?“, fragte sie. „Cristiano hinterließ den Eindruck, dass dies eine arrangierte Ehe ist. Ich bin mir sicher, dass er seine Geschäfte nicht in die Hände einer Frau legen würde, der er kaum über den Weg trauen kann.“
„Und ich bin mir sicher, dass er es nicht begrüßen würde, dass Sie so mit mir sprechen“, sagte ich.
Ich war genauso überrascht wie sie, als sie mich daraufhin ansah.
Cristiano würde mich jetzt an meine Geisteshaltung erinnern. Natasha hatte die falsche Haltung mir gegenüber. Genau wie ich auch. Cristiano würde von mir erwarten, dass ich in einer Situation wie dieser, die Dinge anpackte.
„Señora de la Rosa hat viele Berater“, versicherte Alejandro.
Natashas Blick glitt über mich zu ihm zurück. „Ich bin mir sicher, Sie wollen wissen, was passiert ist. Können wir irgendwo reden?“
Waren sie und Cristiano … zusammen gewesen? Heute Abend? Am Telefon hatte er davon nichts erwähnt. Aber warum sollte er auch? Auf jeden Fall konnte ich mich im Moment nicht damit belasten lassen. Cristianos Zustand war viel wichtiger.
„Wir können jetzt reden. Hier“, sagte ich.
Der Aufzug kam und wir betraten ihn. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie uns die Sache besprechen lassen“, sagte Natasha zu mir. „Es ist nichts für sanfte Gemüter.“
Ich würde den Elfenbeinturm besitzen und von dort heraus regieren. Das hatte Cristiano mir an dem Tag versichert, an dem wir unsere Gelübde ablegten. Wenn ich nicht selbst daran glaubte, dass ich in seiner Abwesenheit die Dinge leiten konnte, dann würde ich es nie tun. „Ich muss bei allen Unterredungen anwesend sein.“
Sie sah zu Alejandro, als ob er seine Erlaubnis erteilen müsste. „Cristiano vertraut ihr“, sagte er. „Und bei allem Respekt, Natasha, aber Sie sind die Fremde hier.“
Der Aufzug hielt im obersten Stockwerk des Hauses und die Türen öffneten sich. „Nenn mich Tasha. Das macht Cristiano auch“, sagte sie und verließ die Kabine.
Ich versuchte, mit Alejandro mitzuhalten, als er den Flur entlang zu unserem Schlafzimmer ging. Bis er abrupt an der Türschwelle anhielt und sich mit finsterem Blick zu mir drehte.
„Was ist?“, fragte ich.
„Du