Lena fiel nichts Passendes ein, um seine Argumentation widerlegen zu können. Auch ein hilfloser Blick zu Maggie half da nichts. Ihre ansonsten so muntere Gesellschafterin saß mit ausdrucksloser Miene in ihrem Damensattel und dachte offenbar nicht daran, sich in diesen hochpolitischen Disput einzumischen. Allenfalls heute Abend, wenn sie unter sich waren, würde Maggie ihr verraten, was sie wirklich über Edwards Ausführungen dachte.
«Und wie gefährlich diese Wilden werden können», fuhr Edward fort, «sehen wir ja gerade. Eine Gruppe von Rebellen stiftet seit neuestem unsere Sklaven zu Flucht und Brandstiftung an. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihre Anhänger gegen uns und unsere Familien vorgehen.» Edward verlieh seinen Worten einen gewissen Nachdruck. «Es leben mehr als 300000 Sklaven verteilt auf der ganzen Insel, und wir können ja schlecht dabei zusehen, wie sie die knapp 20000 Weißen auf Jamaika Zug um Zug häuten und vierteilen. Diese Rebellen sind zu allem fähig!»
«Oh mein Gott!» Maggie hielt sich vor Schreck die Hand vor den Mund. «Ist so etwas schon einmal vorgekommen?»
«Bis jetzt noch nicht», beruhigte sie Edward. «Aber was nicht ist, kann durchaus noch werden. Deshalb dürfen wir diese Leute und ihre Anhänger nicht aus den Augen verlieren. Früher haben wir meist nur die Sommermonate auf Redfield Hall verbracht und die Verwaltungsarbeit einem Londoner Anwalt überlassen», erklärte er weiter. «Das geht nun nicht mehr. Aber den Untergang der Plantage werden mein Vater und ich um jeden Preis verhindern. Bereits mein Urgroßvater hat Redfield Hall aufgebaut. Mein Großvater, mein Vater und ich wurden hier geboren. Nicht zu vergessen, dass meine Mutter hier beerdigt ist. Deshalb müssen wir die Plantage erhalten. Koste es, was es wolle.»
Lena war gelinde gesagt schockiert. Von solchen Problemen hatte Edward in London nicht das Geringste erwähnt, als er sie so emsig umworben hatte. Auch in seinen Briefen hatte er nichts dergleichen verlauten lassen. Was hatte er ihr wohl sonst noch alles verschwiegen?
«Wobei das Ganze keine Frage des Geldes ist», fügte Edward hinzu, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. «Davon hat mein Vater mehr als genug. Es ist in erster Linie eine Frage der Ehre. Wir lassen uns von diesen Niggern doch nicht kaputt machen, was unsere Vorfahren unter Einsatz ihres Lebens aufgebaut haben!»
«Und die drei angeketteten Männer, die ich bei meiner Ankunft auf dem Wagen gesehen habe? Waren das Leute, von denen du glaubst, sie würden uns häuten und vierteilen?» Für Lenas Geschmack hatten sie ziemlich eingeschüchtert ausgesehen.
«Sie wollten fliehen und einen Aufstand anzetteln», erklärte er kühl. «Dafür wird ihnen in Kürze der Prozess gemacht, und ich gehe davon aus, dass man sie wegen Anstiftung zur Rebellion hängt.»
Damit schien das Thema für ihn erledigt zu sein. Jedenfalls machte Edward keine Anstalten, noch mal auf Lenas Einwurf eingehen zu wollen. Lena wusste nun nicht, was sie von der ganzen Geschichte halten sollte. Wollte Edward ihnen nur Angst machen, damit sie sich ungefragt auf seine Seite stellten? Oder waren die Neger wirklich so schlimm? Den gesamten Ritt zurück nach Redfield Hall konnte sie an nichts anderes mehr denken.
Nach ihrer Rückkehr übergaben sie die Pferde einem Stallburschen und folgten Edward in den Salon, wo Estrelle zur Erfrischung verschiedene Fruchtsäfte servierte, die mit Wasser und Zuckersirup verlängert waren. Zum anschließenden Dinner am Abend würde endlich auch Lord William von seinem Besuch bei Gouverneur Lowry-Corry, dem 2. Earl Belmore, aus Spanish Town zurück sein. Lena verspürte eine gewisse Aufregung bei dem Gedanken daran, zum ersten Mal nach so langer Zeit ihrem Bald-Schwiegervater gegenüberzustehen. Mit Maggies Hilfe zog sie ihr bordeauxfarbenes Festtagskleid an, dessen Ausschnitt mit schwarzer Spitze verhüllt war. Maggie trug wie üblich ein graues, hochgeschlossenes Seidenkleid, das ihre Strenge unterstreichen sollte. Eine perfekte Verkleidung, wie Lena befand, die nichts über die wahren Qualitäten ihrer Gesellschafterin verriet.
«Ob Lord William mich mögen wird?», fragte sie unsicher. «Nach den Diskussionen mit Edward weiß ich jetzt schon, dass wir gewiss nicht immer einer Meinung sein werden.»
«Der alte Lord kann froh sein, dass endlich wieder eine Frau das Haus mit Leben füllt!» Maggie zupfte an dem Stoff herum. «Schließlich ist die letzte Herrin von Redfield Hall schon ein paar Jahre tot.»
«Mich würde in diesem Zusammenhang interessieren, was es mit diesem vermaledeiten Friedhof auf sich hat», sagte Lena und kontrollierte im Spiegel den Sitz ihrer Frisur. «Du hast ja gehört, wie Edward von den Gräbern seiner Vorfahren gesprochen hat. Merkwürdigerweise will er nicht, dass ich dort hingehe und für seine Mutter ein Gebet spreche. Dabei liegt die Grabstätte nur etwa eine halbe Meile südlich vom Herrenhaus entfernt, in einem eigens angelegten englischen Park.»
«Komisch», bemerkte Maggie. «Wenn man Estrelle und den Porträts im Treppenhaus Glauben schenken will, war Lord William nach dem Tod von Edwards Mutter mindestens noch ein Mal verheiratet.»
«Hm …» Lena griff sich nachdenklich ans Kinn. «Edward spricht anscheinend nicht gerne darüber. Jedenfalls hat er nichts dergleichen erwähnt. Aber ich kann verstehen, dass all das sicher nicht leicht für ihn war», erklärte sie mit einem Seufzer. Schließlich wusste sie selbst nur zu gut, wie es sich anfühlte, ohne Mutter aufzuwachsen.
«Schade, dass das Personal nicht tratscht», sagte Maggie bedauernd. «Aus Estrelle bekommt man leider nur das Allernotwendigste heraus.»
Lena warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sie war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden. Mit klopfendem Herzen ging sie in den großen Salon im Untergeschoss und wartete dort auf die erste Begegnung mit ihrem Schwiegervater in Jamaika. Als er noch in London weilte, hatte Lord William ihr und ihrem Vater nur kurz seine Aufwartung gemacht. Dringende Geschäfte hatten ihn ins House of Lords gerufen, und so war kaum Zeit gewesen, um sich ausreichend kennenzulernen.
Die Begrüßung fiel unverhältnismäßig knapp aus.
«Bleib sitzen, Helena», schnarrte William und machte eine abweisende Handbewegung, als Lena aufstehen wollte, um ihm die Hand zu reichen.
Lord William besaß immer noch die Attraktivität seines Sohnes, zumal er für sein Alter von sechzig Jahren ein erstaunlich vollständiges Gebiss präsentierte. Das graue Haar sorgfältig geschnitten, das Kinn glatt rasiert und von einem Hauch Eau de Cologne umgeben, gab er im grauen Cut den perfekten Gentleman. Doch seiner griesgrämigen Miene nach zu urteilen, war er nicht gerade bester Laune.
Wie üblich servierte der Butler Jeremia das Abendessen im sogenannten Diningroom. Mit seinen weißen Handschuhen und der steifen Miene hätte er seinen britischen Kollegen in London alle Ehre gemacht. Auch das vornehme Interieur des Speisesalons erinnerte Lena an zu Hause. Der glatt polierte Boden aus tropischem Holz, die darübergelegten schweren, persischen Teppiche und die roten Samtschabracken an den riesigen Fenstern unterschieden sich nicht im mindesten von den übrigen Räumlichkeiten, aber vor allem nicht von englischen Speisezimmern.
«Was machen die Geschäfte, Vater?», fragte Edward, offenbar um die Stimmung etwas aufzulockern.
«Ach, diese verschissenen Baptisten-Missionare sind daran schuld, wenn in Kürze auf der Insel die Hölle ausbricht. Man sollte diese Pfaffen alle verbrennen!»
Hastig